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Über schönste erste Sätze

„Es war eine dunkle und stürmische Nacht ...“

Erste Sätze sollen hineinziehen und fesseln, Ton und Szenerie vorgeben, auch in der Übersetzung. Sie sind eine internationale Faszination – mit Essays, Webseiten, Ranglisten.

Es gibt die kurzen klaren Hauptsätze wie „Etwas Schreckliches war geschehen“ („Something terrible happened“) oder „Die Dashwoods waren eine alteingesessene Familie in Sussex“ bzw. „Die Dashwoods waren lange in Sussex ansässig gewesen“ („The family of Dashwood had long been settled in Sussex“) oder ein fröhlicher Imperativ wie „Willkommen im Todestal des Genitivs!“ bei Bastian Sick, der wohl nie übersetzt werden wird.

Absolute Reduktion ist markant, siehe Klassiker wie Marcel Prousts „Lange Zeit bin ich früh ins Bett gegangen“ oder „For a long time, I went to bed early“ („Longtemps, je me suis couché de bonne heure“). Dabei werden manche erste Sätze erst durch den zweiten gut, wie Camus’ „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht“ („Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas“). Statt „Mother died today“ und „Maman died today“ argumentiert Ryan Bloom im New Yorker-Blog einen ganzen Artikel lang für „Today, Maman died“.

In Tolstois Kreutzersonate liest sich an den verschiedenen Anfängen, dass jede Übersetzung ein anderes Buch ergibt: „Es war Vorfrühling. Wir waren den zweiten Tag unterwegs“ oder „Es war im Frühling. Wir waren schon den zweiten Tag unterwegs“ oder „Es war zeitig im Frühjahr. Wir fuhren schon den zweiten Tag“ oder „Es war zu Beginn des Frühlings. Wir reisten bereits den zweiten Tag“. Als Neuübersetzer setzt man sich schon im ersten Satz von den Vorgängern ab.

Längere Sätze können kunstvoll mehrere Zeitebenen eröffnen wie in García Marquez’ Hundert Jahre Einsamkeit: „Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen“ („Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo“).

Was in Raymond Chandlers The Big Sleep so schön hard und wet (abgebrüht und sex- und alkoholfixiert) klingt wie Philip Marlowe – „It was about eleven o’clock in the morning, mid October, with the sun not shining and a look of hard wet rain in the clearness of the foothills“ –, wird im Deutschen: „Es war gegen elf Uhr morgens, Mitte Oktober, ein Tag ohne Sonne und mit klarer Sicht auf die Vorberge, was klatschkalten Regen verhieß“. Klatschkalt und kein bisschen erotisch. Schade.

Wenn sich einer mit einem Feuerwerk an Rhythmus und Dramatik unter die ewig besten ersten Sätze schreibt wie Charles Dickens in A Tale of Two Cities –„It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair“ –, dann darf der Übersetzer nicht verzweifeln: „Es war die beste Zeit, es war die schlechteste Zeit. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Torheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens; es waren die Tage des Lichts, es waren die Tage der Finsternis; es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung.“ Ist aber schwer.

Zum schönsten ersten Satz wurde 2007 „Ilsebill salzte nach“ aus Günter Grass’ Der Butt gekürt – knapp und voller Wohllaute. Liest man die fremdsprachigen Entsprechungen –„Ilsebill remit du sel“, „Ilsebill put on more salt“, „Ilsebill volvió a salar“, „Ilsebill a mai adugat  sare“, „Ilsebill ha aggiustato di sale“ –, dann ist in diesem seltenen Fall das Deutsche den anderen Sprachen weit voraus. Nachsalzen können nämlich nur wir.

Übrigens ist der auf ewig verpönte Satz „It was a dark and stormy night“ von Edward Bulwer-Lytton die Inspiration für den jährlichen Bulwer-Lytton Fiction Contest der San Jose State University um den schlechtesten ersten Satz. Dabei wird er zum Ende hin besser, aber so weit kommen wohl viele nicht mehr ...

ZUM WEITERLESEN

New Yorker Blog-Artikel

Bulwer-Lytton Fiction Contest

100 Best First Lines From Novels

DANK AN DIE ÜBERSETZER/INNEN

Susanne Höbel (Nadine Gordimer, Die Hauswaffe), Ursula und Christian Grawe, Ruth Schirmer (Jane Austen), Curt Meyer-Clason (García Marquez), Gunar Ortlepp (Chandler), Richard Zoozmann (Dickens), Eva Rechel-Mertens, Lydia Davis (Combray), Uli Aumüller, Stuart Gilbert, Matthew Ward (Der Fremde), Jean Amsler, Ralph Manheim, Miguel Saénz, Corneliu Papadopol, Bruna Bianchi (Grass), Olga Radetzkaja, Arthur Luther, August Scholz, Raphael Löwenfeld (Tolstoi) Ich kenne die Unbilden: Zeitdruck, Verlag, wie kriege ich alles unter?

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