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Botschaften aus Babel: Ina Pfitzner (ipf)

Die Simultandolmetscher der Nürnberger Prozesse

Feuerprobe für das Übersetzen

Das Simultandolmetschen ist Prinzip der UNO, der Europäischen Union und anderer Organisationen. Erfunden wurde es bei den Nürnberger Prozessen. Eine Hommage an seine Pioniere mit ungewöhnlichen Lektüretipps.

Der 20. November 1945 ist der erste Sitzungstag des so genannten Nürnberger Prozesses gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher. Im Justizpalast richtet der US-Hauptankläger Robert H. Jackson das Wort an den voll besetzten Saal 600: an Ankläger und Richter aus den USA, der UdSSR, Großbritannien und Frankreich, an die 21 Angeklagten und ihre Verteidiger aus Deutschland, an Reporter, Soldaten, Personal. Viele setzen die Kopfhörer auf. Hinter Glas murmeln die Dolmetscher in drei Sprachen in die Mikrophone. Man schreibt Geschichte.

Zum ersten Mal verantworten sich Kriegsverbrecher vor einem internationalen Militärtribunal. Zum ersten Mal stehen führende Politiker, Militärs und Industrielle für die Planung und Ausführung von Krieg und Massenmord Rede und Antwort. Zum ersten Mal definiert man „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Hannah Arendt hält diese Übertragung von „crime against humanity“ für „das Understatement des Jahrhunderts“, denn eigentlich müsste es passender „Verbrechen gegen die Menschheit“ heißen). Zum ersten Mal wird simultan gedolmetscht.

Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher (er dauert bis August 1946) wird auf Deutsch, Englisch, Russisch und Französisch verhandelt; bei den zwölf Nachfolgeprozessen (bis 1949) vor amerikanischen Militärgerichten spricht man Englisch und Deutsch. Fragen und Aussagen werden binnen Sekunden übertragen; man kommuniziert in der Muttersprache und von Angesicht zu Angesicht. Ohne das simultane Dolmetschen hätte der Prozess nicht stattfinden können. Es ist Bestandteil der Verhandlungen, ermöglicht ein gerechtes Verfahren und lässt die Öffentlichkeit teilhaben. Das, was im Justizpalast zu Nürnberg geschieht, ist eine Feuerprobe für die politische und rechtliche Dimension des Übersetzens und weist ihm eine neue, entscheidende Rolle zu.

Rund 300 Dolmetscher und Übersetzer waren im Laufe der Prozesse im Einsatz, darunter jüdische Emigranten aus Deutschland und Österreich, die oft selbst Verwandte in der Shoah verloren hatten, wie Hans Lamm, Peter Less, Peter Uiberall, Wolf Frank, Arno Hamburger oder Henry A. Lea. Nur wenige von ihnen sind ausgebildete Dolmetscher, die Technik von IBM ist seinerzeit noch unerprobt. Unermüdlich dolmetschen sie Gräueltaten, gegenseitige Schuldbezichtigungen, Unschuldserklärungen. Göring kritisiert die Dolmetscher; Sauckel glaubt bis zuletzt, er sei wegen eines Dolmetschfehlers verurteilt worden. George A. Sakheim erinnert sich an die Antwort von Auschwitzkommandant Rudolf Höss auf die Frage, ob er nachts schlafen könne: „Ja doch, danke. Sehr gut sogar.“

Wie man das aushält? „Wir waren die ersten. Wir fühlten uns wie Pioniere. Wir waren jung, wir waren abenteuerlustig und wir mochten unsere Arbeit. Abends gingen wir ins Kino,“ sagt Peter Less. Mit professioneller Distanz und höchster Konzentration übersetzt man Wörter und Sätze ohne Kontext „wie eine Maschine“. Erst sehr viel später haben einige über ihre Zeit in Nürnberg erzählt und geschrieben. Wolfgang Hildesheimer, der beim Einsatzgruppenprozess auch die Prozessakten bearbeitete, schrieb gegen das Vergessen, doch über Nürnberg hat er geschwiegen. Seit November 2010 ist der Schwurgerichtssaal 600 im Rahmen der Dauerausstellung Memorium Nürnberger Prozesse zu besichtigen.

Siegfried Ramler: Die Nürnberger Prozesse. Erinnerungen des Simultandolmentschers. Martin Meidenbauer Verlag, 134 Seiten, 32, 90 Euro

Richard W. Sonnenfeldt: Mehr als ein Leben. Vom jüdischen Flüchtlingsjungen zum Chefdolmetscher der Anklage bei den Nürnberger Prozessen. Fischer Taschenbuch, 288 Seiten, 8,90 Euro

Wolfgang Hildesheimer: Schönheit als Therapie. Insel Taschenbuch, 92 Seiten, 4,95 Euro

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