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Botschaften aus Babel: Ina Pfitzner (ipf)

Gleichnisse für das Übersetzen

Was bin ich? Kleine Berufskunde

Das Übersetzen ist einer der ältesten Berufe der Welt und wurde schon im Alten Testament erwähnt. Doch für keinen anderen Beruf scheint es so viele Gleichnisse zu geben wie für das Übersetzen.  

Piloten sind einfach Piloten, Journalisten Journalisten, Frisösen Frisösen, Zahnärztinnen Zahnärztinnen. Aber uns Übersetzer vergleicht man gern mit anderen Berufen (interessanterweise aber nie diese mit Übersetzern), und oft sind sie es selbst, die Gleichnisse für ihre Arbeit suchen. Als würde man sonst nicht verstehen, was wir da tun, als müsste man das irgendwie überhöhen. Gibt’s da vielleicht einen gewissen Rechtfertigungsdruck? Oder sind wir einfach nur schwer einzuordnen, weil wir an einer faszinierenden Schnittstelle von Kunst und Handwerk, von Gelehrtheit und Praxis arbeiten? Weil wir zwar wie Dichter und Autoren um die richtigen Worte ringen, aber eben nicht um unsere eigenen und nicht darum, was wir wie sagen wollen.
 
Als Gleichnis dienen einerseits eher handfeste Metiers: Fährmänner, Brückenbauer, Wortschmiede. Wobei der Fährmann hier der absolute Klassiker ist, denn übersetzen, so für den Polnisch-Übersetzer Karl Dedecius (1921-2016), heißt über-setzen (wie das lateinische translatio): über den trennenden Fluss auf die andere Seite. Dabei navigiert der Übersetzer in unberechenbaren Gewässern, kann vom Kurs abtreiben, auf Grund gehen ... das lässt sich beliebig weiterspinnen.
 
Das andere sind die künstlerisch-performativen Vergleiche: der Musiker (der von der Partitur spielt), der Schauspieler (der nach dem Skript spricht) und die Tänzerin, allerdings in Ketten. „In Ketten tanzen“ (Voltaire und Nietzsche nachempfunden) bedeutet, man bewegt sich frei und kreativ in einem bestimmten, vom Original vorgegebenen Spielraum. Der Jack-London-Neuübersetzer Lutz-W. Wolff: „Jede Überset- zung ist eine Interpretation. Das ist so ähnlich wie, sagen wir, Beethovens Fünfte: Das Musikstück, die Noten, stehen fest, auf dem Papier. Aber trotzdem ist jede Aufführung ein Unikum – und dementsprechend auch was Besonderes.“ Trotzdem muss der Übersetzer eben nicht Abend für Abend vor Publikum zur Höchstform auflaufen. Übersetzer sind „Darsteller ohne Bühne“.
 
Ich habe bei meiner Arbeit ein anderes Bild im Kopf: Peter Schlemihl aus Adelbert von Chamissos gleichnamiger Horror-Märchennovelle von 1813. Nicht, weil dieser seinen Schatten an den Teufel verkauft, darauf von den Menschen gemieden wird und ziellos um die Welt irrt. Und auch nicht unbedingt, weil er „Entdecker“ ist und wir schließlich auch den Text für das Deutsche „ent-decken“. Nein, wenn ich die schwierige erste Fassung geschafft und den Text erst einmal ins Deutsche herübergeholt habe, dann ist das, als hätte ich wie Peter Schlemihl (alias Chamisso, alias Alexander von Humboldt) mit Siebenmeilenstiefeln einen riesigen Schritt vom Kontinent der einen Sprache zum anderen gemacht. „Ich trat bei den Herkules-Säulen nach Europa über, und nachdem ich seine südlichen und nördlichen Provinzen in Augenschein genom- men, trat ich von Nordasien über den Polargletscher nach Grönland und Amerika über, durchschweifte die beiden Teile dieses Kontinents ...“
 
Dann fängt die Kleinarbeit an, das Ausschwärmen, Botanisieren, Sammeln, Vergewissern, denn mit dem Übersetzen kommt die Verunsicherung in der eigenen Sprache. Quasi im Auftrag des Autors entdecken wir Wörter, Wissensgebiete, Welten, auf die wir nie gekommen wären, gelangen rasend schnell zu seinen wohl- durchdachten Schlüssen: „Wunderbar veränderliche Länder, Fluren, Auen, Gebirge, Steppen, Sandwüsten, entrollen sich vor meinem staunenden Blick ...“
 
Das treffendste Gleichnis ist aber der heilige Hieronymus, der Schöpfer der lateinischen Vulgata-Bibel und Schutzpatron der Übersetzer, vor allem in Albrecht Dürers Kupferstich Der heilige Hieronymus im Gehäus (1514). Genau wie er sitzen nämlich auch wir am Schreibtisch (mit Denkerstirn, meist ohne Rauschebart und Heiligenschein), lesen, schlagen nach, grübeln und schreiben. Und manchmal stehen wir auf, um uns einen Kaffee zu machen, und haben dabei die besten Ideen!
Und wo vor ihm auf dem Boden ein kuscheliger Löwe döst, da ist es bei uns vielleicht ein Stubentiger. Und wer selbst keinen hat, klickt auch mal im Internet ...
 
ADELBERT VON CHAMISSO: Peter Schlemihls wundersame Geschichte 
Reclam (2013), 96 Seiten, 2 Euro
 
KARL DEDECIUS (HRSG.): Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts
Insel (2008), 543 Seiten, 38 Euro
 
ANDREAS F. KELLETAT UND ALEKSEY TASHINSKIY (HRSG.): Übersetzer als Entdecker – Ihr Leben und Werk als Gegenstand translationswissenschaftlicher und literaturgeschichtlicher Forschung
Frank & Timme (2014), 376 Seiten, 49,80 Euro
 
GABRIELE LEUPOLD UND KATHARINA RAABE (HRSG.): In Ketten tanzen – Übersetzen als interpretierende Kunst 
Wallstein (2012), 294 Seiten, 14,99 Euro
als E-Book erhältlich
 
JACK LONDON: Lockruf des Goldes 
Übersetzt von Lutz-W. Wolff
dtv (2015), 416 Seiten, 12,90 Euro
als E-Book erhältlich

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