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Überschätzte Bücher: Stefan Volk (smv)

J. K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall

Bloß nicht mit sich selbst verwechselt werden wollte J. K. Rowling in ihrem ersten Roman nach „Harry Potter“. Das klappte erschreckend gut. Mitreißend, märchenhaft schön, fantasievoll, humorvoll, schlichtweg genial, ein Meisterwerk: „Ein plötzlicher Todesfall“ war von alldem das Gegenteil.

Anders sollte er sein! So gar nicht „Harry Potter“. Ein Roman für Erwachsene, geradeaus, ohne magischen Schnickschnack. Und tatsächlich gelang J. K. Rowling mit „Ein plötzlicher Todesfall“ etwas, was ihr kaum einer zugetraut hätte: Die begnadete britische Bestsellerautorin schrieb ein unfassbar langweiliges Buch bar jeden literarischen Zaubers. Nicht jeder sah das so. Lev Grossman vom „Time Magazine“ hätte den „brillanten“ Roman am liebsten für den Booker Prize vorgeschlagen. Viele andere gähnten da bloß.

Dass sich „Ein plötzlicher Todesfall“ trotzdem wie verrückt verkaufte, wundert nicht. Rowling sells. Als in diesem Juli medienwirksam „enthüllt“ wurde, wer sich hinter dem Pseudonym des vermeintlichen Ex-Militärpolizisten Robert Galbraith verbarg, sprang ihr jüngstes Werk, „The Cuckoo’s Calling“, aus dem Nichts auf Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste.

Der Krimi um Privatdetektiv Cormoran Strike startet ähnlich zäh wie Rowlings erstes Post-Potter-Buch, nimmt dann aber Fahrt auf. In „Ein plötzlicher Todesfall“ wartet man darauf vergebens. Da bricht ein gewisser Barry Fairbrother, Ruderlehrer und Gemeinderatsmitglied in der fiktiven englischen Kleinstadt Pagford, eines Tages tot zusammen, und anschließend lässt Rowling erst mal fünfzig Seiten lang das halbe Dorf darüber tratschen. Offenbar war Barry in einen Streit verwickelt, der schon lange in Pagford schwelte. Um was es dabei ging, deutet Rowling zunächst nur an. Womöglich versucht sie dadurch, Spannung aufzubauen. Eine Methode, die bei „Harry Potter“ funktionierte, weil sich hinter „Du-weißt-schon-wer“ eine dunkle epische Macht verbarg. Die Provinzposse, die „Ein plötzlicher Todesfall“ enthüllt, erscheint dagegen eher der passende Stoff fürs Gemeindeblättchen. Die einen wollen die Sozialsiedlung „Fields“ samt einer Drogenklinik an die Nachbargemeinde loswerden, die anderen, zu denen Barry gehörte, möchten sie behalten. Eine Folge „Inspector Barnaby“ ohne Barnaby und ohne Morde könnte kaum eintöniger sein.

Trivial, klischeehaft entwickelt sich auch der Erzählstrang um den exemplarischen Sozialfall Krystal Weedon; die Drogensüchtige mit der Hure als Mutter. Rowlings Gesellschaftskritik verpufft. Die Unterleibspassagen, die sie bei jeder unpassenden Gelegenheit einstreut, helfen da auch nicht. Bis heute hat der pubertierende Andrew nicht vergessen, wie er in der Grundschule einmal die „nackte rosa Möse“ der fünfjährigen Krystal erspähte. Und weil der „Hängebauch“ des 64-jährigen Howard Mollison „bis auf die Oberschenkel“ reicht, müssen die meisten Leute bei seinem Anblick „sofort an seinen Penis denken“. Ein klarer Fall von Post-„Harry Potter“-Syndrom! Daniel Radcliffe rennt nackt auf die Bühne. Emma Watson nimmt nur noch Rollen an, bei denen sie so tun kann, als wäre sie sexy. Und Joanne K. Rowling zelebriert jedes vulgäre Wort wie einen persönlichen Triumph: Schaut her, das kann ich auch! Leider kann sie’s nicht. Unter der Gürtellinie klingt Rowling tantenhaft bieder. Aber wenn schon „Sex & Drugs“, dann bitte auch „Rock’n’Roll“!

„Ein plötzlicher Todesfall“ erinnert mit seinem behaglichen Plauderton und blumigen Stil bestenfalls an die wunderbaren „Harry Potter“-Romane. Allzu oft aber verliert sich die Autorin in ungelenken, ebenso wichtigtuerischen wie nichtssagenden Wortkon­strukten: „Normalerweise wartete sie bis zum Ende des Schultags, um ihren Sohn im Nissan mit heimzunehmen, und überließ es Colin (von dem Tessa niemals als Pingel sprach – obwohl sie wusste, wie der Rest der Welt ihn nannte, einschließlich der meisten Eltern, die das von ihren Kindern übernommen hatten), ihnen ein oder zwei Stunden später in seinem To­yota zu folgen.“

Ganze Absätze, mitunter Seiten setzt Rowling in Klammern, als könnte man sie genauso gut weglassen. Letztlich gilt das für den gesamten Roman: Klammer auf, Klammer zu. Im Prolog zu „The Cuckoo’s Calling“ zitiert Rowling nun den römischen Dichter Lucius Accius: „Unhappy is he whose fame makes his misfortunes famous.“ Im Nachhinein hätte sie „Ein plötzlicher Todesfall“ wohl besser unter Pseudonym geschrieben.

J. K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall
Übersetzt von Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol
Carlsen, 576 Seiten, 24,90 Euro

Hörbuch
Gelesen von Christian Berkel, Der Hörverlag,
1149 Minuten/3 MP3-CDs, 12,99 Euro

J. K. Rowling
geb. 1965 in Yate, England, arbeitete als Sekretärin, Sprachlehrerin und bezog zwischenzeitlich Sozialhilfe, bis sich ihre siebenbändige Harry Potter-Serie (1997–2007) zur erfolgreichsten Romanserie aller Zeiten entwickelte. Schätzungen zufolge verdiente Rowling über eine Milliarde US-Dollar. Ein plötzlicher Todesfall (2012) ist ihr erster Erwachsenenroman. Im Juli dieses Jahres wurde bekannt, dass Rowling die Autorin des unter Pseudonym veröffentlichten Krimis Der Ruf des Kuckucks (Blanvalet) ist.  

 

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