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Annette Pehnt: Mobbing

Wenn man glaubt, man habe das Schlimmste hinter sich, hat es gerade erst begonnen: Annette Pehnt gelang in „Mobbing“ ein beängstigender Blick in die Arbeitswelt – vielleicht zu beängstigend für den Geschmack des großen Publikums.

Allen Klischees zum Trotz hat es in der deutschen Literatur zuletzt nicht an Versuchen gefehlt, gesellschaftlichen Zuständen nahezukommen. Zumeist jedoch erlitten sie Schiffbruch zwischen den Klippen der Sozialreportage und jener des überehrgeizigen „großen Wurfs“. Zu den Ausnahmen zählt ein schmaler Roman, den Annette Pehnt vor gut fünf Jahren vorlegte: „Mobbing“. Pehnt erweist sich hier als Meisterin einer kleinen Literatur. Ganz auf Dialoge, Details und Stimmungen konzentriert, dringt sie mit dem Mikroskop ins Herz eines Tabus vor.

Ein Reihenmittelhaus, irgendwo in Deutschland. Hier lebt Joachim Rühler mit seiner Familie. Seine Frau hat als Übersetzerin gearbeitet, ehe die beiden Kinder kamen, jetzt ist er Alleinverdiener. Kein Problem, sein Job in der Öffentlichen Verwaltung ist ja krisensicher, und „Jo“ ist gut und gerne bei der Arbeit – bis das Unerhörte geschieht:
„Das war’s, sagte Jo. Ich musterte sein Gesicht und sah trotzige Erleichterung.

Erleichtert und erledigt

Ich bin erledigt, sagte er, aber es klang nicht so. Inzwischen glaubte ich ihm, aber als er da am Küchentisch stand, musste ich fast lachen. Na ja, sagte ich, so schlimm wird es wohl nicht sein. Wenn das Schlimmste passiert ist, muss man sich endlich nicht mehr davor fürchten, sagte Jo. Sehr weise, sagte ich. Haben Sie Dich rausgeschmissen oder was. Genau, sagte Jo triumphierend.“

In den Anfangssätzen ist bereits alles versammelt, was die Qualität dieses Romans ausmacht. Da ist eine irritierende Ironie, die Fragen aufwirft, die bis zum Ende in der Schwebe gelassen werden: Kann man erledigt und erleichtert zugleich sein? Was wäre wirklich das Schlimmste, das passieren kann? Und was genau ist da eigentlich passiert? Dass wir Letzteres nie mit Gewissheit erfahren, verdankt sich einem Kunstgriff, der ideal zum eigentlichen Thema passt: „Mobbing“ ist aus der Perspektive von Jos Frau erzählt. Von den Mechanismen dahinter erfahren wir also aus dritter Hand. Worum es ihr stattdessen geht, das sind die Folgen: wie schnell Selbst- und Familienbilder zerbrechen können.

Gerade drei Wochen benötigt das Misstrauen, um sich einzunisten. „Du siehst schon überall Feinde, Gespenster, Verschwörungen“, wirft sie ihm vor. Könnte es sein, dass nicht bloß die neue Chefin und die Kollegen die Schuldigen für Jos Rauswurf waren, sondern er selbst? Auch hier erweist sich die Perspektive als Glücksfall: Einerseits zeichnet sich Mobbing ja nicht zuletzt dadurch aus, dass dem Opfer Schuldgefühle eingejagt werden, und zudem wird der Leser unwillkürlich zum Komplizen des Argwohns.

Der Angst zu nahe

Von nun an wird es ungemütlich. Denn Pehnt leuchtet in alle Winkel der Verzweiflung: Da ist Jos Gefühl, zu alt zu sein, um sich wieder aufzurappeln und zu kämpfen; ihre Unfähigkeit, zu schweigen und die Wut auf die Schwäche eines Mannes, der „der Sieger sein sollte“; die Scham über den Neid auf die Nachbarn; schließlich das „Selbstmitleid, weil ich alleine dasaß, weil wir nun kein Einkommen mehr hatten, weil wir Mona vom Musikunterricht abmelden würden, weil ich nicht genug verdienen konnte, um meine Familie zu ernähren.“
Wie die Intimsphäre mit dem großen Ganzen zusammenhängt, auf wie brutal simple Weise gesellschaftliche Anerkennung sich Geld verdankt, auch in Milieus, die sich für aufgeklärt halten – das zu zeigen, ist nicht das geringste Verdienst dieses distanziert einfühlsamen Romans. Als er 2007 erschien, steuerte die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf fünf Millionen zu. Zum Publikumserfolg wurde das Buch dennoch nicht. Vielleicht war Annette Pehnt der Angst einfach zu nahe gekommen.

An den Kritikern lag es nicht, von Ausnahmen wie der Süddeutschen Zeitung abgesehen, die glaubte, „das Phänomen ‚Mobbing‘“ scheine „für den Fortschritt der Literatur nicht sonderlich ergiebig zu sein“. Unsinn. Und was heißt schon Fortschritt, in der Literatur wie der Arbeitswelt? Schätzungen zufolge sind EU-weit inzwischen fast zwölf Millionen Menschen Opfer von Mobbing geworden, in Deutschland hat die Zahl der Fälle von Burn-out und Depression Höchststände erreicht. Einschusslöcher sind nicht zu sehen.

Annette Pehnt: Mobbing. Piper, 176 Seiten, 8,99 Euro
Als Hörbuch gelesen von Nina Petri, Hörbuch Hamburg, 293 Min./3 CDs, 22,95 Euro

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