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In eisigen Höllen

Jens Sparschuh: Der Schneemensch

Nicht satirisch genug fand die zeitgenössische Kritik Jens Sparschuhs „Der Schnee­mensch“. Dabei ist der klug konstruierte Roman über eine Himalajaexpedition nazideutscher Ahnenforscher ebenso fesselnd wie bitterkomisch und auf groteske Weise entlarvend.

Die Hölle? Das ist nicht das Höllenfeuer. Die Hölle – das ist Himalaja.“ Der das denkt, hockt in einer Zelle, wortlos, verwirrt, ohne einen klaren Gedanken halten zu können. Als seltsames Wesen betritt er den Roman. Man weiß nicht recht, ist er Mensch oder doch etwas anderes. Ständig überheizt erscheint der Kreatur ihre Zelle, statt ins Bett legt sie sich auf den nackten Boden. Und Mohnblum, der Mann, der das Wesen untersucht, schaut entweder ratlos oder vielsagend drein.

Die Geschichte dieses merkwürdigen Gefangenen entfaltet sich in einem von drei Erzählsträngen, die Jens Sparschuh in „Der Schneemensch“ miteinander verknüpft. Ein zweiter besteht aus Eintragungen in ein „blaues, wasserdichtes Tagebuch“, in dem ein Teilnehmer einer Himalajaexpedition deren Verlauf festhält. Während des Zweiten Weltkrieges sind drei deutsche Wissenschaftler und ein asiatischer Bergführer im Hochgebirge unterwegs, um nach Spuren des legendären Schneemenschen zu fahnden.

Der missing link zwischen Göttern und Germanen

Der dritte Handlungsfaden schließlich folgt dem Werdegang eines Sprachforschers von seiner Kindheit bis zu dem Moment, wo ihn die Abteilung „Ahnenerbe“ der SS rekrutiert. Aufgrund seiner Studien zur „Universalsprache“, einer Art „Esperanto mit Unbekannt“, soll er als Dolmetscher eine Expedition in den Himalaja begleiten. Deren Ziel ist es, den missing link zwischen Göttern und Germanen zu finden. Eben jenen in der abstrusen Vorstellung der Naziführung direkt dem Himmel entstiegenen Schneemenschen, von dem – und nicht vom Affen – die nordische Rasse angeblich abstammt. Mit dieser bizarren Auslegung der Welteislehre Hanns Hörbigers berührt die fiktive Geschichte einen historischen Kern. Sparschuh zitiert an mehreren Stellen Aussagen von Himmler oder Hitler, die deutlich machen, dass sein Roman keineswegs so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Natürlich wäre es ein Leichtes, die wissenschaftlich unhaltbaren Überlegungen der Nazigrößen in bequemer Rückschau der Lächerlichkeit preiszugeben. Sparschuh aber wählt einen schwierigeren und ungleich reizvolleren Weg. Indem er die drei Erzählstränge, die chronologisch aufeinander aufbauen, nebeneinanderstellt, nähert er sich aus der Innensicht eines jungen, durchaus sympathischen Naziforschers dieser rassistischen Denkweise an und führt sie gleichzeitig ad absurdum.

Dass er dafür nicht die ganz großen Sprachgeschütze auffuhr, nahm ihm die Kritik übel, als sein Roman 1993 erschien. „Satire lag, trotz des absolut satirischen Grundeinfalls, ganz und gar nicht in der Absicht des Autors“, ärgerte sich etwa „Die Zeit“ und attestierte dem bis heute weitgehend verkannten Roman außerdem „Küchenpsychologie“. Dabei verzichtet „Der Schneemensch“ gerade auf plumpe psychologische Erklärungsversuche. Erst zwischen den Zeilen demaskiert der mit reichlich Humor und sanfter Ironie geschriebene Roman die absonderliche Suche nach dem Übermenschen. Am Ende bleibt von der Ideologie nur noch der Wahn. Die Expeditionsteilnehmer gehen im Kreise, und die Spuren der Urahnen, auf die sie dann doch noch stoßen, sind ihre eigenen. „In ein paar Wochen, spätestens einigen Monaten, sehe man in der Frage seiner Identität sicher weiter“, lässt Mohnblum den zum vermeintlichen Schneemenschen mutierten Naziforscher bei einer ersten Befragung im Alliiertengefängnis wissen. Aber: „Das Wort ‚Identität’ bereitet Schwierigkeiten. Mohnblum versucht es mithilfe zweier Streichhölzchen zu erklären, gibt es dann aber bald auf, und das Verhör ist beendet.“

Ein Ausnahmeroman

Es ist ein gewaltiger Bogen, den „Der Schneemensch“ spannt. Von lustigen Kindheitsanekdoten über ein tödliches Abenteuer im Eis bis hin zu einer Kaspar-Hauser-Geschichte. Auf faszinierende Weise gelingt es Sparschuh in diesem Ausnahmeroman, das alles, Himmlers Rassenlehre, den Yeti-Mythos, eine deutsche Durchschnittsbiografie und den Ich-Verlust in der Moderne, leichthin, doch nie leichtfertig unter einen Hut zu bekommen. Rätselhaft ist jetzt eigentlich nur noch, weshalb dieser mutige, vielstimmige, zauberhafte Roman derzeit nicht neu aufgelegt wird.
 

 

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