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Verhinderte Bestseller: Stefan Volk (smv)

Marge Piercy: Gone to Soldiers, Menschen im Krieg

Ein dicker Brocken? Schwerer Stoff? In „Menschen im Krieg“ begleitet Marge Piercy auf fast tausend Seiten jüdische Frauen und Männer durch den Zweiten Weltkrieg. Sie tut das aber so leichthändig, dass man den Wälzer auch an den schmerzlichsten Stellen nicht zur Seite legen mag.
 
Was für ein Wagnis! Über den Zweiten Weltkrieg so zu schreiben; mit diesem langen epischen Atem, mit dem einst ein Leo Tolstoi von den Napoleonischen Kriegen erzählte oder eine Margaret Mitchell vom Sezessionskrieg. Nicht ein Schicksal hat die amerikanische Poetin Marge Piercy für ihr Opus Magnum ausgewählt. Es ist nicht eine Lebensgeschichte, die sie über mehr als sieben Jahre hinweg von 1939 bis 1946 entfaltet. Es sind zehn. Vier Männer, sechs Frauen. Die meisten von ihnen jung, alle mit jüdischen Wurzeln und irgendwie verwandt, befreundet, bekannt und doch immer wieder auf sich allein gestellt.
 
Über drei Kontinente spannt sich das Handlungsgeflecht dieses großangelegten, großartigen, aber nie großtuerischen Romans. Piercy spart dabei nichts aus, sie erspart ihren Lesern weder Auschwitz noch Hiroshima. Die historischen Gräueltaten, die Todeslager, der Holocaust sind allgegenwärtig, aber sie sind nicht das, wovon Piercys Roman handelt. Die Autorin nutzt ihre Figuren nicht als Projektionsfläche, um Historisches abzubilden, sondern im Gegenteil bringt Geschichte nur gefiltert durch das Bewusstsein und die subjektiven Erlebnisse der Protagonisten in den Roman ein. Es ist nicht der Krieg, von dem Piercy erzählt, es sind Menschen. Die Amerikanerin Bernice etwa, die zu groß geratene Professorentochter, die kaum jemand für hübsch oder gar anmutig hält und die es eigentlich auch nicht sein will, sondern so frei und unabhängig leben möchte wie ihr Bruder Jeff. Im Krieg verwirklicht sie sich als Pilotin der „Women’s Airforce Service Pilots“ (WASP) ihren Traum vom Fliegen. Oder Jacqueline, die als junges, modebewusstes, durchaus eitles Mädchen in Paris lebt, ohne sich allzu sehr um ihre jüdische Herkunft zu kümmern, bis sie unter der Herrschaft des Vichy-Regimes dazu gezwungen wird und sich der Résistance anschließt. Es sind die Gefühle, Erlebnisse, die Gedanken, es ist der Alltag dieser Menschen, der Piercy interessiert. Ein Alltag, der in dem größtenteils in den USA, Frankreich und Japan angesiedelten Roman nicht nur aus Bomben und Lagern besteht, sondern auch aus Familienzwist, Eifersüchteleien, ersten Küssen und ersten Nächten. Es wird nicht nur gemordet und geweint, auch geliebt, gelacht und über Kleinigkeiten gestritten. Abwechselnd schlüpft Piercy in die Köpfe und Herzen ihrer Figuren, ohne sie allwissend zurechtzuweisen. Manchmal überlässt sie ihnen in Tagebucheinträgen auch ganz das Wort.
 
Jacqueline allerdings verstummt, als sie nach Auschwitz deportiert wird. Kaum zwei Kapitel widmet Piercy der Zeit im Vernichtungslager. Weder die Selektionen noch den Tod in den Gaskammern oder Mengeles Menschenversuche dramaturgisiert sie, dennoch ist das alles präsent. Eine junge Frau, die ihre Schwangerschaft verbergen konnte, bringt heimlich ein Kind zur Welt. Ein neues Leben, das nur wenige Sätze überdauert: „Endlich wurde es geboren, das kleine Wesen, winzig aber zappelnd am Leben. Der Kapo, der mitmachte, sagte: ‚Gebt ihn ihr nicht, sonst lässt sie nie los.‘ Denn das bedeutete den Tod für beide. Daniela wickelte das Neugeborene in die Lumpen einer Gestorbenen, und der Kapo legte den kleinen Jungen nach draußen zum Sterben. Überfrierender Regen fiel. Es konnte nicht lange dauern.“
 
Piercy beschreibt das so beiläufig, dass es wehtut. Überhaupt ist die große Kunst dieses Romans, dass er nie weit ausholt, nie die Superlative sucht, und dass es Piercy, die elf Jahre lang daran recherchierte, sieben Jahre daran schrieb, gelingt, aus all den traumatischen Erlebnissen, den vielen kleinen Begebenheiten, all den Details und Empfindungen ein Mosaik entstehen zu lassen, das ein Gefühl für eine Epoche vermittelt und dafür, was es bedeuten konnte, darin zu leben. Am Ende steht ein großer Wurf, ein Zeitroman, geschrieben in einer zurückhaltenden, schlichten Sprache und einem lyrischen, hochemotionalen Rhythmus. Ein Meisterwerk über Menschen im Krieg. Das Wagnis hat sich gelohnt.
 
 
Marge Piercy: Gone To Soldiers –  Menschen im Krieg. Übersetzt von Heidi Zerning, Argument Verlag, 988 Seiten, 19,90 Euro

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