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Wiederentdeckte Klassiker: Helmut Krausser

Charles Dickens: Große Erwartungen

Manche Schätze müssen nicht ausgegraben werden, sondern liegen direkt vor uns, ohne dass wir sie bemerken. Charles Dickens’ Roman „Große Erwartungen“ ist ein solcher. Erst in der Neuübersetzung von Melanie Walz zeigt sich, wie spielerisch, wie virtuos Dickens mit Sprache umging.

Nicht immer muss es in dieser Kolumne um zwischenzeitlich vergessene Klassiker gehen. „Große Erwartungen“ gehört zum festen Bestandteil des Kanons der englischsprachigen Literatur und zu Recht. Wiewohl, das muss ja nicht ehrfurchtsvoll verschwiegen werden, der Roman auch einige Schwächen aufweist. In der Mitte hängt die Geschichte arg durch, hätte Kürzungen gut vertragen, kann es mit dem grandiosen ersten Drittel nicht aufnehmen und verstört nebenbei durch eine schon sehr unglaubwürdige Konstruktion.

Wenn es hier eine Wiederentdeckung zu feiern gilt, dann verdankt sie der Text seiner Neu-Übersetzerin. Was Melanie Walz aus der Dickensschen Prosa relativ zu früheren Übertragungen heraus- und ins Deutsche herübergeholt hat, ist schlichtweg sensationell. Nun erst wird deutlich, auf wie vielen sprachlichen Klaviaturen Dickens unterwegs war, nun erst entdeckt man einen geradezu aberwitzig virtuosen Sprachspieler, dessen übermütige, manchmal kühne bis gar anarchische Ideen so wenig zu der gängigen Blaupause des großen Romanciers passen wollen. Denn manche verbinden mit seinem Namen noch immer eine gefällige, leicht betuliche, zeigefingrige Art des Erzählens, die auf vielen, vielen Seiten sanfte Sozialkritik übt, niemandem wirklich wehtut, um nach merkwürdigen Verwicklungen in ein Happy End zu münden. Das ist Quatsch. Nicht einmal Oliver Twist, der von manchen Kritikern gerne als Schnulze verschmähte Jahrhundertroman, besitzt kein rein glückstrahlendes Ende, son
dern ganz düstere Facetten. Vielleicht muss ja auch er einmal neu übersetzt werden. Es zeigt sich wieder, dass der Teufel wie auch das Paradies im Detail liegen. Diverse Übersetzungen ein und desselben Werkes sind meistens völlig verschiedene Bücher. Hätte ich zum Beispiel Flauberts „Lehrjahre des Herzens“ nicht in der Übertragung von Walter Widmer gelesen, sondern in irgendeiner anderen, es wäre gewiss nie mein Lieblingsbuch geworden.

„Hohe Erwartungen“ bietet einen höchst eigenartigen Plot an. Die Handlung umfasst die Zeit von 1812 (Dickens‘ Geburtsjahr) bis 1840. Pip, ein aufgeweckter aber mittelloser Junge, vorgesehen dafür, in der Schmiede seines Schwagers zur Lehre zu gehen, fällt einer exzentrischen Dame auf, die es sich – anscheinend – in den Kopf gesetzt hat, den Jungen zu einem Gentleman auszubilden und ihn – es wird immer schöner – den Reizen ihres hochmütigen Mündels Estella auszusetzen. Jene Miss Havisham nämlich wurde am Hochzeitstag von ihrem Bräutigam verlassen. Nun hat sie der Männerwelt Rache geschworen und Estella zu einem lieblosen Wesen erzogen, das an ihrer Stelle Vergeltung am männlichen Geschlecht üben soll. Das kann man weit hergeholt finden, aber genauso gut herrlich durchgeknallt. Es steckt schon in der Anlage dieser Geschichte verdammt viel Humor. Dickens schuf sich eine Vorlage für seine ironischen bis schwer sarkastischen Apercus, entwarf für manche Rollen eine eigene Grammatik mit toll erfundenem Wortschatz. Im Austausch dafür kann man mir viel erzählen. Im Verlauf der Geschichte lernt Pip seinen wahren Wohltäter kennen, durchlebt mit ihm etliche Abenteuer. Das Ende wurde von vielen Lesern als so traurig empfunden, dass sich Dickens zu einer Revision durchrang. Aber auch dieser zweite Schluss ist keineswegs, wie man es selbst in Lexika lesen kann, ein Happy End. Viel eher ein völlig offener Schluss, der einiges an Möglichkeiten übriglässt.
Der Roman ist übrigens nicht so dick, wie das Buch vortäuscht. Ich bin wahrlich kein Freund ausufernder Anmerkungsapparate, muss aber meinen virtuellen Hut ziehen ob soviel angehäuften, interessant dargelegten Wissens, ohne welches der Text gar nicht hundertprozentig verstanden werden kann. Was man zuvor natürlich nicht geahnt, geschweige denn vermutet oder gewusst hat. Melanie Walz muss für eine Erhellung gedankt werden.

Charles Dickens: Große Erwartungen. Übersetzt von Melanie Walz,  Hanser, 832 Seiten, 34,90 Euro. Auch als E-Book erhältlich
 

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