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Wiederentdeckte Klassiker: Helmut Krausser

Der Bericht des besten Freundes

Franz Overbeck: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche

In seinen „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“ betrachtet Franz Overbeck den besten Freund nicht als Genie, sondern als sensiblen, vielfach gebrochenen Menschen. Das Buch spiegelt auf interessante Weise den Verlauf einer komplizierten Freundschaft.

Dieses Buch erzählt dem fortgeschrittenen Nietzscheverehrer wenig Neues. Es ist in einer gespreizten Sprache geschrieben, wie sie Altphilologen entwickeln, wenn sie sich zu viel mit lateinischem Satzbau beschäftigt haben. Es ist nicht einmal aus einem Guss, sondern vom Overbeck-Schüler Bernoulli aus Hunderten von Zettelkastennotaten geschickt zusammengebastelt worden. Overbecks Verständnis von Nietzsches Gedankenwelt ist dabei mitunter erstaunlich oberflächlich.

Das Literarischste an diesem Buch ist der luzide Essay von Heinrich Detering, der sanft all die Schwächen des Buches benennt und mal mehr, mal weniger überzeugend, verteidigt. Warum nun ist „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“ dennoch eine lohnende Lektüre, über das historische Verdienst hinaus, sich vor etwas mehr als hundert Jahren gegen die Vereinnahmung des großen Denkers durch das Weimarer Archiv gestellt zu haben, gegen all die Fälschungen und Missdeutungen von Nietzsches Schwester und ihrem völkisch-antisemitischen Dunstkreis?

Der wahnsinnige Freund

Der Grund liegt in einem interessanten typologischen Verlauf des Verhältnisses von Overbeck zu seinem besten Freund nach dessen Wahnsinnsausbruch. Dieses Verhältnis teilt sich in drei Phasen.

Erstens: „Überforderung“. Nachzulesen in den Briefen an Köselitz, die den Anfang des Buches bilden und sozusagen unmittelbar, beinahe unreflektiert, vom Geschehen berichten. Sehr früh glaubt Overbeck den Freund verloren, da sei nichts mehr zu machen. Auch wenn er damit im Nachhinein recht behielt, es lag weit außerhalb seiner medizinischen Kompetenz, eine solch defätistische Diagnose zu stellen. Overbeck spricht sogar offen an, dass der einzig wahre Freundschaftsdienst gewesen wäre, Nietzsches Leben von liebender Hand zu beenden. Wie auch immer, der praktische Kampf um Nietzsches Nachlass hat begonnen, und es ist spannend zu lesen, mit welch diffiziler Diplomatie hier hinter den Kulissen die Verantwortung verteilt und um Mitsprache gerungen wird.

Einige Jahre später, nach vereinzelten lichten Momenten und vergeblichen Hoffnungen, folgt die zweite Phase, die ich „Kritik“ nennen möchte. Overbeck erinnert sich an den lebendig mumifizierten Freund, an dem, so das brutale Eingangsverdikt, eigentlich nichts groß gewesen sei. Das relativiert er dann zwar dauernd, aber offensichtlich handelt es sich um den Versuch, aus dem inzwischen schon berühmten Mann Luft zu lassen, um neben ihm bestehen zu können, auf geistiger Augenhöhe sozusagen. Denn erst diese „Gesundschrumpfung“ erlaubt Overbeck, den Menschen Nietzsche hervorzuholen und seine Freundschaft mit ihm zu referieren und zu feiern. Hier finden sich denn auch die rührendsten Momente und Zeugnisse ehrlicher Verbundenheit.

Das genaue Gegenteil von Friedrich Nietzsche

Es folgt die dritte Phase, kurz nach Nietzsches Tod im Jahre 1900. Inzwischen ist der Philosoph sehr berühmt, und Overbeck begreift zumindest unterbewusst, dass sein eigenes Leben einmal darauf zusammengekürzt werden wird, Nietzsches bester Freund gewesen zu sein. Darum möchte ich diese Phase „Apostelwerdung“ nennen. Overbeck vergleicht sich mit anderen Nietzsche-Freunden wie Köselitz, Rée, Rhode, Malwida von Meysenbug, grenzt sich von ihnen ab oder weist ihnen einen Rang zu. Oder wirft ihnen gar Verrat vor, wie im Fall von Köselitz, der sich spät auf die Seite der unsäglichen Nietzsche-Schwester Elisabeth schlägt. All das aber immer in äußerster Bescheidenheit, subtil zwischen den Zeilen, ohne Zorn und Erregung - und sein Schüler Bernoulli wird nach dem Tode Overbecks noch etliche Stellen zusätzlich abmildern. Das ist sehr schade. Ein wenig mehr Furor und Polemik hätte dem manchmal zu diskreten und gewiss nicht klatschsüchtigen Text gut getan. Aber Overbeck war eben seinem ganzen Wesen nach das genaue Gegenteil Nietzsches und vielleicht konnten die beiden allein aus diesem Grund beste Freunde sein und bleiben.

Franz Overbeck: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz (Peter Gast) und einem Essay von Heinrich Detering. Berenberg Verlag, 160 Seiten, 20 Euro

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