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Wer ewig lebt

Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich

Es gibt Tage, von denen man sich wünscht, dass sie nicht angerechnet  werden. Doch die Gegenwart  schreitet  voran. Die Zeit – niemand kann  sie aufhalten,  alle wollen mehr davon. Oft reichen  die 24 Stunden eines Tages nicht aus. Doch, wohin mit der Zeit, wenn  man unendlich viel davon hat?

Ich will kein Grashalm sein.“ Regine fürchtet die Vergänglichkeit. Die exaltierte Schauspielern lebt in unerschöpflicher Selbstherrlichkeit und ist doch innerlich jeglicher Persönlichkeit enteignet. Sie wütet durch das Leben anderer und kann sich nur durch Zerstörung selbst fühlen: „Wenn Leute um mich her leben, lieben und glücklich sind, habe ich das Gefühl, dass sie an mir einen Mord begehen.“ In ihrem Hotel sieht sie einen Mann völlig unbeteiligt auf dem Rasen liegen. Tag für Tag. Sie beneidet ihn, er scheint keinen Kampf mit der Zeitlichkeit auszutragen: „Er hatte etwas Aufreizendes; sie hatte Lust, seine Ruhe zu stören und für ihn zu existieren.“

Foscas Körper ist erst dreißig, seine Seele lebt jedoch schon seit über 650 Jahren. Regine kann es nicht fassen. Seine Unsterblichkeit könnte sie im Gedächtnis der Welt verewigen! Sie verlässt ihren Geliebten, beendet ihre Karriere, zerstört alle Dinge, die ihr etwas bedeuten und leitet mit dieser hysterischen Inszenierung einen Neuanfang ein. Dass dies in kompletter Abhängigkeit von Fosca geschieht, berührt den müden Helden kaum. Aber seine Gleichgültigkeit stört Regines Narzissmus. Alles, was sie sagt, hat er schon gehört.
Hier setzt die eigentliche Geschichte ein. Fosca beginnt zu erzählen und entfaltet in vier Teilen sechs Jahrhunderte Weltgeschichte; ein Weg voller Schlachten, Eroberungen und Umbrüche. Er kommt 1279 zur Welt und wird Fürst der italienischen Stadt Carmona. Ein Bettler bietet ihm ein Elixier an, das ewiges Leben verspricht. Fosca zögert nicht lange und triumphiert:

„Nie wird meine Freude erlöschen.“ Jahrhunderte lang beflügelt von der Beherrschung der Welt, erkennt er das ewige Errichten und Zerstören als absurdes Tun. Egal, ob als Entdecker in Amerika, Berater im Kaiserreich Karl V., Wissenschaftler oder Revolutionär, es ist immer dasselbe Streben und Scheitern. Nach 500 Jahren trifft er auf Marianne und alle Jahrhunderte, die er bis dahin durchlebt hatte, „starben am Rande dieses Augenblicks“. Als sie erfährt, dass er unsterblich ist, zerbricht sie fast daran. Sie hatte ihm ihr ganzes Leben geschenkt, während er sich nur „verliehen“ hatte. Sie stirbt und Fosca bemüht sich, das „Jetzt nicht entstehen zu lassen, damit die Vergangenheit weiterexistierte.“ Er lebte noch fünfzig Jahre „unter ihren Blicken“, zurückkommen aber würde sie nie. Fosca ist zwar frei, doch für alle Zeiten allein.

Bei seiner Veröffentlichung erntete Beauvoirs verstörender Roman viele ablehnende Stimmen. Zu pessimistisch! Der entwicklungsscheue Charakter des Helden und die schematische Darstellung der überreizten Regine wurden häufig als Schwächen des Textes deklariert. Andere sehen in dem Protagonisten, der jeden Menschen zu einer Eintagsfliege macht, den Fingerzeig auf Beauvoirs eigene biographische Situation. Durch die amerikanische Geliebte Sartres, Dolores Vanetti, soll sie ihre eigene „Einmaligkeit“ bedroht gesehen haben.
Foscas Existenz als trostloses Einerlei färbt mitunter tatsächlich gefährlich auf den Leser ab. Doch das hindert nicht daran, eine wohltuende Botschaft aus der Lektüre mitzunehmen. Die beiden Hauptfiguren erleben im Extrem, was eigentlich in jedem Menschen wohnt: Das Bedürfnis, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Erst im Epilog spürt Regine (schmerzvoll) das Leben, weil sie den Tod nun offenbar akzeptieren kann. Das hinterlässt den zur „Freiheit verdammten“ Leser mit dem beruhigenden Gefühl, dass die Aussicht auf ein Ende, Selbstverwirklichung möglich macht und gibt dem Roman seine zeitlose Brisanz.

Alle Menschen sind sterblich. Übersetzt  von Eva Rechel-Mertens. rororo, 477 Seiten, 9,95 Euro

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