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Julia Franck

Kann es sein, dass Sie sich als Schriftstellerin mittlerweile reif genug fanden, um auch mit so einem Thema umzugehen? Um eine Familiengeschichte zu verarbeiten, für die man vielleicht einen gewissen künstlerischen Abstand haben muss?

Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, das mit Reife zu charakterisieren, aber vielleicht mit Mut. Mein erster Roman „Der neue Koch“ ist dafür bezeichnend, der ist extrem weit weg von meinem Leben. Als ich sehr jung war, habe ich um autobiografische Bezüge einen großen Bogen gemacht, auch weil die Geschichten, die mein Leben und das meiner Familie prägen, extrem schlimme sind. Insofern war meine Sehnsucht nach dem schlichten Leben anderer enorm. Erstaunlich und verstörend für mich war, dass die Rezensenten bei diesem ersten Roman trotzdem davon ausgingen, dass das meine Lebensgeschichte sei. Deshalb versuchte ich danach, eine größere Wahrhaftigkeit zumindest zu suchen und eigene Erfahrungen nicht zu leugnen. Das brauchte Mut. Es braucht auch jetzt enorm viel Mut. Natürlich habe ich ständig Angst zu scheitern, auch an der eigenen Unbedingtheit, der Strenge, mit der dieser Roman auf sein Ende zuläuft und nicht so tut, als hätte es genauso gut anders sein können. Es hätte nämlich nicht anders sein können.

Die fast schicksalhafte Ausweglosigkeit, die Thomas spürt, wird im Roman stark verknüpft mit dem politischen Kontext, dem Mauerbau. Soll das heißen, als sensibler Mensch hätte man keinen anderen Ausweg finden können als den Tod?

Als sensibler Mensch und als jemand, der unfassbar hohe Erwartungen an die eigene Integrität hat – ja, ich glaube, für solche Menschen ist das in veränderten politischen Situationen der unbedingte Ausweg. Thomas empfindet den Tod als die schönere Alternative. Wer gibt uns den Auftrag, leben zu müssen? Marie zu begegnen, seiner Gefährtin des Sterbens, ist im Grunde Thomas’ Glück, weil sich im gemeinsamen Tod ja auch die romantische Idee abbildet, sich in die ewige Liebe retten zu können.

Man liest den Roman einerseits auf den historischen Kontext hin, da die Handlung zeitlich sehr genau verortet wird, andererseits erzählt er ein sehr individuelles Schicksal. Inwieweit trägt diese Geschichte Stellvertreterpotenzial?

Auf keinen Fall ist der Roman eine Analogie zur DDR-Gesellschaft. Ich glaube, dass man einen ähnlichen Roman etwa auch über einen heutigen Selbstmordattentäter schreiben könnte. Der kommt auch aus einer ganz bestimmten Familie und trifft die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, aus einem ganz bestimmten Aufeinanderprallen von eigenen Erwartungen und gesellschaftlichen Bedingungen heraus.

Haben Sie schon einmal über dieses Thema nachgedacht?

Ja, habe ich, aber ich bin in der islamischen Kultur zu wenig zu Hause. Aber man muss gar nicht in den Islam gehen. Es geht um den Knackpunkt in einer Gesellschaft. Wo knackt ein Mensch ein? Bei Thomas kommt dieser Knackpunkt kurz nach dem Mauerbau. Und bevor die Gesellschaft es mit ihm tut, hat er sich abgeschafft. – Was ich sehr spannend finde, ist, dass einem, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, plötzlich lauter Signale in der Umgebung auffallen. Hier in Berlin habe ich plötzlich überall diese Stolpersteine gesehen, auf denen sich neben dem Sterbedatum häufig die Formulierung findet „Flucht in den Tod“. In der Klasse meines Sohnes wurde darüber gesprochen. Die Kinder fragten, was das heißt, und der Lehrer sagte, diese Menschen seien wohl irgendwie während der Flucht ums Leben gekommen. Das finde ich spannend, weil es zeigt, wie wenig wir uns mit dem Tod als Ausweg und dem Knackpunkt in der Gesellschaft befassen. Oder befassen wollen.

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