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Interview: Katharina Granzin (kgr) | Fotos: Katharina Granzin

"Ich hasse blabla!"

In seinem neuen Thriller „Verachtung“ greift Jussi Adler-Olsen eines der dunkleren Kapitel der dänischen Geschichte auf. BÜCHER traf den Bestsellerautor zu einem Gespräch über Literatur und Gesellschaft und eine glückliche Kindheit in der Psychiatrie.

Jussi Adler-Olsen ist der derzeit international erfolgreichste dänische Thrillerautor. Mit „Verachtung“ erscheint jetzt der vierte Band seiner Carl-Mørck-Reihe auf Deutsch. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die in ihrer Jugend als sozial minderwertig klassifiziert und zwangssterilisiert wurde – ein Fall, der auf eine früher übliche staatliche Praxis zurückgeht. Mit „Verachtung“ zeigt Adler-Olsen sich von einer Seite, die man bisher weniger an ihm kannte: als Autor, der mit seinen Büchern nicht nur unterhalten will, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Anliegen verfolgt. Noch beim Interview in Berlin kann der ehemalige Friedensaktivist, Verleger und Musiker, der als Schriftsteller eher ein Spätzünder war, sich über Politiker ereifern, die gegebene Versprechen nicht halten.

Angeblich lesen Sie nie andere Thriller- oder Krimiautoren, um nicht beeinflusst zu werden. Stimmt das?

Ja, stimmt. Ich hasse es auch, an irgendwelchen Veranstaltungen zum Thema teilzunehmen. Ich bin Autor und kein Genre-Experte.

Aber jeder Autor ist ja zuerst Leser gewesen. Sie müssen irgendetwas in Ihrem Leben gelesen haben, das Sie inspiriert hat, irgendwann selbst Thriller zu schreiben.

Als Kind habe ich alles gelesen, was mir in die Hände kam. Mein Vater gab mir und meinen Schwestern einmal eine Reihe von gekürzten literarischen Klassikern. Es waren sechzig Magazine; aber eines fehlte, Nummer 18. Ich war zehn Jahre alt und fragte, warum. Und er sagte, auf dem Cover ist ein schreckliches Bild von einem Mann, ich will nicht, dass ihr das seht. Das fand ich unglaublich. Mein Vater war Arzt, und wir waren es gewöhnt, dass er uns mit haarsträubenden Geschichten unterhielt. Schon als ich fünf war, erzählte er am Abendbrottisch von einem, der sich umgebracht hatte, und wie sie ihn abgeschnitten und den Körper heruntergeholt hatten. Wir waren schon als Kinder ziemlich abgebrüht. Schließlich haben wir unsere Kindheit in verschiedenen psychiatrischen Kliniken verbracht. Da sahen wir alles, was man sich überhaupt vorstellen kann.

Was war das denn für ein Bild, das Sie nicht sehen sollten?

Ein toter Mensch mit großen runden Augen. Ich wusste, dass mein Vater alles, was wir nicht in die Hände bekommen sollten, in dem Schrank versteckte, wo er auch das Chloroform und das Morphium aufbewahrte. Ich wusste, wo der Schlüssel war, fand das Magazin also dort und dachte, das soll alles sein? Der Mann auf dem Bild war ziemlich bleich. Er sah nicht allzu gut aus, muss ich zugeben. Aber trotzdem habe ich mich gefragt, warum. Und mein Vater sagte, dieses Bild ist viel schrecklicher als das Buch selbst. Ich las also das Buch und fand es richtig langweilig. Er hatte recht gehabt. Da habe ich gemerkt, dass sich alles nur um Bilder dreht, um das Erzeugen von Bildern im Kopf.

Wenn Bücher so früh in Ihrem Leben schon so wichtig für Sie waren, wie kam es dann, dass Sie so spät mit dem Schreiben begannen? Als Ihr erster Roman „Das Alphabethaus“ 1997 erschien, waren Sie immerhin schon 47.

Ich wusste immer, dass ich es konnte. Als Kind habe ich an Schreibwettbewerben teilgenommen und gewonnen. Aber ich war, wie ich fand, gut in vielen Dingen. Ich spielte zum Beispiel Gitarre in einer Rockband und bin, weil ich damit so beschäftigt war, nie zur Schule gegangen. Also schaffte ich den mittleren Schulabschluss nicht und musste das ganze Jahr wiederholen, was an sich fair war, aber schrecklich peinlich. Da nahm mich mein Vater beiseite. Mein Vater war – ist immer noch – wohl der am besten ausgebildete Mensch in ganz Dänemark, er hatte unter anderem vier Professorentitel und war nebenbei Dirigent am Konservatorium. Mein Vater sagte also zu mir, denkst du, ich hätte so viele Abschlüsse geschafft, ohne auch mal durchzufallen? Ich halte den dänischen Rekord im Durchfallen, Jussi! Und ich weiß, dass du viele Talente hast. Also bitte: Probiere sie in deinem Leben alle aus, eins nach dem anderen! – Deswegen habe ich erst so viele andere Dinge gemacht. Denn ich wusste, wenn ich jemals mit dem Schreiben anfinge, könnte ich das ebenso gut zum Ende des Lebens hin machen. So muss man nie in Rente gehen. Man kann einfach immer weitermachen und Spaß haben.

Wenn von Ihrer Kindheit die Rede ist, wird häufig darüber geschrieben, wie Sie in all diesen psychiatrischen Einrichtungen aufwuchsen, und dass Sie einen Patienten namens Mørck kennenlernten, der Ihnen ein Kätzchen schenkte. Wie war es für Kinder, in einer solchen Umgebung aufzuwachsen?

Damals war es in diesen Einrichtungen so, dass alle, die dort arbeiteten, mit ihren Familien auf dem Gelände lebten. In der dritten Klinik, wo wir wohnten, gab es hundertzwanzig Kinder in meinem Alter! Es war nie ein Problem, eine Fußballmannschaft zusammenzustellen. Die erste Einrichtung, in der wir lebten, war allerdings ziemlich schlimm. Ich war erst fünf, und wir blieben nur ein Jahr. Dort habe ich die Patienten noch ohne Psychopharmaka erlebt.

Ab wann gab es denn Psychopharmaka?

Wohl so ab Ende 1955. 1956 zogen wir um in eine andere Klinik, und da war es schon möglich, mit den Patienten zusammen zu sein. Vorher haben sie uns nur angespuckt und angeschrien. Wenn sie im Sommer draußen waren, saßen sie in Käfigen. Aber später, unter Medikamenten, konnten sie Umgang mit anderen pflegen wie normale Menschen. Damals habe ich diesen Mørck getroffen, und später, in Jütland, wo wir sechs Jahre lang lebten, waren viele Patienten meine Freunde.

Diese frühen Erfahrungen haben auch Spuren in Ihren Thrillern hinterlassen. In Ihrem neuesten Mørck-Titel „Verachtung“ geben Sie zum Beispiel gezielt Hinweise auf eine mögliche psychische Erkrankung von Carls Assistentin Rose.

Ja, Hinweise! Ich erzähle aber nicht die ganze Geschichte. Wer weiß schon, was mit Rose wirklich los ist? Natürlich haben Sie recht. Aber die eigentliche Inspirationsquelle für dieses Buch ist eine andere. Sie stammt aus einer Zeit, als mein Vater dabei war, seine letzten Examina abzuschließen, in der Mitte der dreißiger Jahre. Es gehörte zu seiner Ausbildung, den Ort zu besuchen, wo diese Mädchen untergebracht waren.

Sie meinen die jungen Frauen, die, wie in „Verachtung“ geschildert, von der Gesellschaft als asozial aussortiert und weggesperrt wurden …

Ja. Mein Vater war in einer Einrichtung, wo die Mädchen sortiert wurden – in solche, die geistig behindert waren und andere, die man für gesellschaftlich nicht tragbar hielt. Es war wie im KZ; die eine da entlang, die andere dort. Mädchen, die mit dem Falschen gevögelt hatten, waren damals sofort unten durch, und das galt auch für solche, die aus armen Verhältnissen stammten und mit Söhnen der Upperclass ins Bett gingen. Sie sollten auf ihrer eigenen Ebene bleiben, sonst wurden sie fertiggemacht.

Die Einrichtung auf der Insel Sprogø, auf der die Mädchen im Roman dauerhaft festgehalten werden, gab es auch in der Realität?

Als wir in Jütland lebten und unsere Verwandten auf Seeland besuchen wollten, mussten wir dort immer mit der Fähre vorbei. Und jedes Mal begann mein Vater diese Geschichten zu erzählen und sagte, dies hier ist die schandbarste Sache, die ich je erlebt habe. Er zeigte hinüber, und wir sahen die Frauen auf der Insel. Ich war elf Jahre alt.

Ab wann gab es diese Einrichtung?

Etwa seit 1930. Bis 1961 lebten insgesamt 1800 Frauen auf der Insel.

Und was passierte 1961?

Sprogø wurde geschlossen. Die Frauen, die nicht geistig behindert waren, wurden in einfache Jobs vermittelt oder vom Sozialsystem versorgt. Etliche haben auch geheiratet und sich völlig aus dem System befreien können. Denn die meisten von ihnen waren nicht zurückgeblieben, sondern einfach promiskuitiv. Und heutzutage – wer kann schon sagen, wer von denjenigen, die hier herumlaufen, damals auf Sprogø gelandet wäre? Damals reichte schon ein bisschen Herumvögeln, und schon war die Frau ein Fall für die Insel. Man wollte kein „schlechtes Blut“. Mein Vater und ich sprachen später, als ich erwachsen war, oft darüber. Wann begann das, und wo kam es her? Viele Dinge, von denen man denkt, die Nazis hätten sie mitgebracht, sind rein skandinavisch. Seit 1860 wurden die Menschen in solche Stereotypen eingeteilt. Kein skandinavisches Land kann heute behaupten, dass das bei ihnen nicht so gewesen wäre. Das gab es überall.

Und die Zwangssterilisierungen? Die passierten auch in Wirklichkeit?

Ja. Die einzige Möglichkeit, von Sprogø wegzukommen, war, sich mit einer Sterilisierung einverstanden zu erklären. Etliche haben das getan.

Also waren alle Frauen, die jemals von dieser Insel herunterkamen, vorher sterilisiert worden?

Ja. Viele dieser Frauen leben heute noch. Einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe, ist, dass jemand aus der dänischen Regierung sagen sollte, es tut uns leid. 2010, als es in Dänemark herauskam, brachten wir immerhin die Sozialministerin dazu, in den Medien zu erklären, sie werde sich persönlich dafür einsetzen, dass all diese Frauen eine staatliche Entschädigung erhalten. Großartig, habe ich gesagt, aber das will ich erst sehen, bevor ich es glaube. Und was ist passiert? Gar nichts. Es war bloßes Blabla. Wie ich das hasse!

Sie verfolgen mit Ihren Thrillern also durchaus einen politischen Anspruch?

Auf jeden Fall. Ich bin aber nur ein Teil jener, die versuchen zu verhindern, dass die dänische Kultur immer mehr von Vorurteilen und Stereotypen dominiert wird. Es gibt in Dänemark vieles, wofür man sich schämen muss. Aber das sind ja nicht wir! Wir hatten das Pech, dass wir mit Anders Fogh Rasmussen einen Premierminister hatten, der die Gesellschaft so stark polarisiert hat, dass die Leute sich nur noch gegenseitig anschrien. Ich habe lange für die Friedensbewegung gearbeitet, und mein Hauptziel war es dabei, dafür zu sorgen, dass die äußerste Linke und die äußerste Rechte begannen, miteinander zu reden. – Oft wird gesagt, dass ein Lächeln die kürzeste Entfernung zwischen zwei Menschen ist. Aber das stimmt nicht. Es ist das Lachen. Wenn man gemeinsam lacht, heißt es, man ist sich einig. Mit Lachen eine Brücke über diese Kluft zu bilden, das ist mein Wunsch.

Carl Mørcks arabischer Assistent Assad ist ja eine ziemlich humoristisch angelegte Figur …

Ja, Assad ist so eine Brücke! Und Carl Mørck ist ihr Erbauer. Fast alle meine Hauptfiguren sind voller Ironie. In vielen Ländern, wo ich in Übersetzung zu lesen bin, wird das gar nicht verstanden.

Warum ist er eigentlich Araber? Sie hätten ja auch einen Chinesen nehmen können, oder irgendeine andere Nationalität …

Wer weiß schon so genau, was er ist?

Also ist Assad gar kein Araber?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Genau darum geht es.

Wann werden wir denn erfahren, was er wirklich ist?

Das kann ich nicht erzählen, tut mir leid. Ich weiß es, aber ich sage es nicht. Also, ja, er hätte auch Asiate sein können, aber in Dänemark nehmen die Vietnamesen die gesellschaftliche Spitzenposition unter den Immigranten ein, weil sie extrem gut integriert sind. Ich wollte eine Figur finden, die von vornherein etwas weniger soziales Ansehen bedeutet – und es sollte ein Moslem sein, um die ganze Thematik an ihrem Nerv zu packen.

Der erzieherische Charakter der Literatur …

Genau. Ich habe irgendwann gemerkt, dass, wenn ich im Ausland gewesen war und mit dem Taxi vom Flughafen kam, es meistens ein Moslem war, der hinter dem Steuer saß. Etliche davon hatten eine weit bessere Ausbildung genossen als ich selbst, und manche waren ziemlich lustige Kerle. Also sagte ich zu mir selbst, ja, genau so mache ich es. Es wird nicht politisch korrekt sein, sondern das Gegenteil davon!

Der erste Carl-Mørck-Thriller „Erbarmen“ wird in diesem Herbst verfilmt. Sind Sie in die Produktion eingebunden?

Ich war beteiligt am Casting von Mørck. Und ich habe viel mit dem Drehbuchautor gestritten, Nikolaj Arcel, der selbst auch Filmregisseur ist und der zum Beispiel auch das Skript für den ersten Stieg-Larsson-Film geschrieben hat. Er ist sehr fähig; aber wie es immer ist, wenn man an solchen Dingen arbeitet, hasst man sich manchmal gegenseitig. Er hat, genau wie ich, ein hitziges Temperament. Ich bin mit vielen Dingen im Drehbuch nicht einverstanden. Und ich kenne mich in der Filmbranche besser aus als andere Schriftsteller.

Ich habe irgendwo gelesen, dass auch Lars von Trier am Drehbuch mitgearbeitet hat …

Oh nein, das hat er nicht! Lars ist großartig. Aber er hat diese dunkle Seite, und wenn man seine Art, Filme zu machen, mit einem Filmprojekt verbindet, das ebenfalls sehr dunkel ist, aber auf ganz andere Art, dann wird es einfach zu dunkel. Er ist in keiner Weise beteiligt. Er ist Miteigentümer der Produktionsfirma, wird also an dem Projekt mitverdienen. Aber das ist alles.

Sie beide kennen sich ja noch aus dem Studium?

Ja, auch wenn er sich daran nicht mehr erinnern kann. Ich kann mich gut an ihn erinnern, aber ich erinnere mich immer an alles. Wir haben gleichzeitig Filmwissenschaft studiert. Ich habe den Abschluss gemacht, er nicht, er ist vorher zur Filmschule gewechselt. In den Seminaren saß er immer hinten und hat über alles gemeckert.

Wann wird „Erbarmen“ in die Kinos kommen?

Die Premiere ist erst am 26. Dezember 2013. Wir brauchen diese Pause, weil es wegen der Jahreszeiten manchmal nötig sein wird, zwei Filme pro Jahr zu drehen. Und es soll jedes Jahr eine Premiere geben.

Und Sie werden insgesamt zehn Mørck-Bände schreiben?

Zehn, zwölf, zehneinhalb, neun – das weiß ich wirklich noch nicht. Es kommt auf die Leser an. So lange sie mögen, was ich tue, mache ich weiter.

Jussi Adler-Olsen: Verachtung. Übersetzt von Hannes Thiess, dtv, 544 Seiten, 19,90 Euro, als E-Book erhältlich

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