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Portrait: Alexandra Jabs (aj) | Fotos: Hermann Rauschmayr

Debütantinnenball: Cornelia Travniczek

Im Durchgangsflur

In der literarischen Welt ist derzeit jung, wer nach 1970 geboren ist, und sehr jung, wer eine Acht im Geburtsjahr vorweisen kann. Nicht weniger als vier sehr junge Autorinnen, die ein interessantes, ein poetisches oder anrührendes Buch geschrieben haben, stellen sich in diesem Bücherfrühling dem Leser vor.

Die Österreicherin Cornelia Travnicek (25) erzählt in „Chucks“ die Geschichte der jungen Mae, die zuerst ihren Bruder an den Krebs und später einen geliebten Mann an Aids verliert. Mae überwirft sich mit ihren Eltern, die sich wiederum nach dem Tod des Sohnes entfremdeten. Mae war zwar die Überlebende, aber ohne Halt. Sie landet auf der Straße, in einer Affäre mit einer philosophierenden Punkerin, die zu viel Dosenbier trinkt, dann in einer Beziehung mit einem jungen Architekten, der ihr so etwas wie Normalität offeriert  – und verliebt sich schließlich in Paul, der HIV-positiv ist.

„Mae ist das Konglomerat von allen Mädchen, die ich mal gekannt habe“

„Es gibt kleine autobiografische Splitter, die ich fiktionalisiert, verfremdet und wieder eingebaut habe“, sagt die Autorin. „Die großen Stränge der Geschichte aber sind nicht autobiografisch, und Mae vielleicht so etwas wie das Konglomerat aus allen Mädchen, die ich mal gekannt habe.“ Travnicek folgt Meas Geschichte nicht chronologisch, immer wieder erfährt der Leser in schnellen Schnitten Bruchstücke aus der Vergangenheit, die mit der Gegenwart verknüpft sind. Dies verleiht der Geschichte einen großen Sog, ebenso die Vielfalt der sprachlichen Bilder, die trotz der traurigen Geschichte Humorvolles durchscheinen lassen. Das Buch wurde, zusammen mit elf anderen Werken, Filmproduzenten als herausragender Filmstoff bei der Berlinale vorgestellt. Auch die Autorin findet, dass die Geschichte sich auch als Film gut umsetzen lassen würde. „Bevor das Buch für die Berlinale ausgewählt wurde, hatte ich sogar schon einige Szenen für einen Drehbuchwettbewerb eingereicht,“ sagt sie. Wirklich berührend wird die Geschichte, als sich Pauls Sterben an Aids in einem langen Prozess vollzieht. Travnicek findet Worte und Bilder, die Hilflosigkeit, aber auch Akzeptanz vermitteln.

Mae beginnt, sich mit Reliquien einzudecken. Sie friert Pauls Sperma ein, schneidet eine Haarlocke ab und zuletzt fängt sie Luft aus seinem Krankenhauszimmer in einem kleinen Tupperdöschen. Seinen Geruch. Ein hoffnungsloser Kampf gegen die Vergänglichkeit und einen, der das unausweichliche Ende vorwegnimmt. Mae, die wütend Kassiererinnen beschimpft, aufmüpfig und schlagfertig ist und sich auch schon mal ganz nah an einen fahrenden Güterzug stellt, um zu spüren, wie der Sog Richtung Schienen sie erfasst, ist dabei ein wundervoll zarter und zugleich unerschütterlich vorwärtsgerichteter Charakter, der kämpft, aber nicht untergeht. In einer Szene beschreibt Cornelia Travnicek, wie Mae als Kind von ihrer Mutter in die Jacke gesteckt und in den Durchgangsflur geschoben wird. Tür zu, bis der Vater sie abholte. Auf die gleiche Weise wird das Kind retourniert. Der Roman scheint im übertragenen Sinne diese Schleuse widerzuspiegeln, zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der die eine Tür schon geschlossen ist, sich die andere aber noch nicht geöffnet hat. Kombiniert mit der Geschichte der Liebe zu einem sterbenden Mann, der tot ist, wenn die Lebenskompromisse beginnen, ist Cornelia Travnicek ein beeindruckendes Debüt gelungen.

„Welthaltigkeit“? „Fräuleinwunder“?

Bei jüngeren Autoren, vor allem bei welchen, die sehr nah an ihrer eigenen Lebenswelt erzählen, spricht man schon länger von „Welthaltigkeit“, eine Worthülse, die ähnlich katastrophal wie „Fräuleinwunder“ anmutet. Warum sind schreibende, junge Frauen ein Wunder? Warum ist Alltag im Roman die ganze Welt? Einige dieser jungen Autorinnen erzählen nah dran an ihren Erfahrungen, lassen den Leser so etwas wie den Sound der Jugend erleben, mit all seinen schrägen und zarten Tönen. Liebe und Beziehung spielen in ihren Büchern erstaunlicherweise eine weniger zentrale Rolle als der fehlende Zusammenhalt oder das Auseinanderbrechen von Familie, die Entwurzelung in der Gesellschaft und der Tod.

Drei der jungen Schriftstellerinnen erzählen aus der ersten Person, einem Ich, das in Alter und Geschlecht ihnen in etwa entspricht. Fiktion und Autobiografisches lassen sich so wohl nur schwer trennen, aber das ist auch überflüssig, denn die Romane machen die daraus entstehende Intimität aus. So öffnet Olga Grjasnowa durch ihre Protagonistin, die, wie sie selbst, aus Aserbaidschan nach Deutschland immigrierte, die Tür in eine nach außen perfekt assimilierte Migrationskultur. Doch auch wenn Mascha sieben Sprachen spricht, bleibt sie stumm, wenn sie sich an ihre Erlebnisse als Kind im Bürgerkrieg in Baku erinnert.

Gute Voraussetzungen

Doch die Autorinnen sind Realistinnen, distanzieren sich auf Nachfrage vom erzählerischen Ich. Lisa-Maria Seydlitz fängt Gefühle des Sommers ein, erzählt in der ersten Person, Juno, vom Verlust des Vaters und der Kindheit. Juno sucht etwas, das sie verloren hat und wird dafür belohnt. Cornelia Travniceks Protagonistin, in ihrer geballten Wut auf die Welt und das Verlassen werden, ist authentisch und leidenschaftlich, der Roman eine Coming-of-Age Geschichte unter drastischen Bedingungen. Nur Nina Bußmann versetzte sich in einen Protagonisten, der durch Alter und Geschlecht ihrer eigenen Person diametral entgegengesetzt ist – und löste diese selbstgestellte Aufgabe mit einer Bravour, die ihr in Klagenfurt den 3-Sat-Preis einbrachte.

Alle diese jungen Debütantinnen haben bereits Geschichten veröffentlicht, Stipendien erhalten, Kurzgeschichtenpreise gewonnen oder sogar literarische Studiengänge besucht. Ihnen allen sind Prädikate verliehen worden, die sie weitergebracht, gefördert und aufgebaut haben, bis zu diesem ersten Buch in einem namhaften Verlag. Noch nie war die literarische unabhängige Kultur in Deutschland so produktiv wie zurzeit: Lesebühnen, Wettbewerbe, Poetry-Slams und Blogs. Stipendien, Schreibgruppen und Autorenforen liefern Kritik, finanzielle Starthilfe und Bestätigung. In der Peripherie dieser Schreib- und Lesekultur entwickelten sich diese Romane, die einmal mehr Kritiker und Leser aufhorchen lassen werden: so jung und so gut?! Kein Wunder. Eine erfreuliche Entwicklung.

Cornelia Travnicek: Chucks. DVA, 192 Seiten, 14,99 Euro

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