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Portrait: Jutta Vahrson (jv)

Deutsche Debüts aus Hollywood

Im Schlangenkeller von L.A.

Zwei prominente Frauen, die eigentlich in der Filmwelt zu Hause sind, legen dieses Frühjahr ihre Romandebüts vor: Franka Potente und Katja Eichinger schreiben über Männer, deren Leben in Los Angeles aus den Fugen gerät. BÜCHER fragte nach, was sie beim Schreiben bewegt hat.

Diese Stadt scheint zum Schreiben zu verführen. Gleich zwei aktuelle Debütromane spielen in der Sehnsuchtsmetropole Los Angeles, „Amerikanisches Solo“ und „Allmählich wird es Tag“. Beide Autorinnen stammen aus Deutschland, leben seit einer Weile in L.A., sind fast gleich alt, haben mit der Filmbranche zu tun. Beide erfanden für ihren ersten Roman jeweils einen älteren Mann mit Neigung zum Voyeurismus, der aktiv in seine Lebenskatastrophe hineinsteuert. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auf, denn die Krisen, die ihre Protagonisten durchleben, könnten unterschiedlicher kaum sein.

Katja Eichinger ist Journalistin, Sachbuchautorin, Witwe von Filmproduzent Bernd Eichinger und pendelt zwischen München und L.A. Dort lebt sie in West Hollywood, nahe der Kreuzung zum Laurel Canyon, in dem ihr Roman-Antiheld hinter hohen Mauern haust. „In Laurel und Nichols Canyon wohnen einige meiner Freunde wie Werner Herzog und seine Frau Lena. Sie haben mich während des Schreibens ermutigt und bekocht. Ohne die beiden wäre mir die Einsamkeit, die das Schreiben mit sich bringt, sehr schwergefallen. Eine andere Freundin hatte sich in einem der Canyons gerade ein Haus gekauft, von dem aus man auf die Terrasse eines berühmten Musikers sehen kann. Und als wir so auf ihrer neuen Terrasse standen, dachte ich mir: ‚Wie wäre es, wenn es umgekehrt wäre? Wenn der Musiker sie beobachtet?‘“

So entstand der 51-jährige Jazzsaxophonist Harry Cubs, ein Mann mit Paranoia und einem geheimnisvollen Keller. Seine Autorin Katja Eichinger feiert am 20. April ihren 43. Geburtstag. Für ihren Musiker wird eine junge Nackte im fernen Nachbarwohnzimmer zur Projektionsfläche und schließlich zum Entführungsopfer. Wenn Frauen aus Männersicht schreiben (oder Männer aus Frauensicht) geht es oft darum, beim Schreiben einen Abstand zum eigenen Leben herzustellen. Dazu Katja Eichinger: „Ja, durch diese Distanz kann ich den Protagonisten vor mir sehen wie die Figur in einem Film. Die Bilder laufen vor meinem inneren Auge ab und ich brauche sie nur noch zu beschreiben.“

Apokalyptische Müllhalde

Film- und Fernsehschauspielerin Franka Potente lebt mit Tochter und Mann in der kalifornischen Metropole und wird im Sommer 40 Jahre alt. Ihr Protagonist Tim Wilkins, 49, büßt nach langer Ehe seine Gattin ein, füllt seinen Pool nicht mehr, verliert seinen Job, bewirbt sich als  Buchhalter in einem Gitarrenshop, lässt sein Wohnzimmer zur „apokalyptischen Müllhalde“ werden, flieht in diverse Drogen und versteckt sich beim Aufreißen hinter dem Namen des Überpolizisten John McClane, der Kinokultfigur aus Bruce Willis’ „Stirb Langsam“-Reihe. Mit anderen Worten: Potentes „Held“ ist ein menschliches Desaster. Das Ergebnis vom Bedürfnis der Autorin nach Distanz oder beobachtetes „typisches Männerverhalten“? „Wahrscheinlich beides“, erklärt Potente. „Das passiert unbewusst. Ich mochte einfach diese Figur. Ich bin solchen Menschen so oder so ähnlich begegnet und habe mich für ihre Geschichte interessiert. Wie fällt jemand von heute auf morgen aus dem Raster? Wie sicher sind die Sicherheiten, die uns umgeben? Was passiert mit unserem Leben, wenn wir scheinbar ‚angekommen‘ sind? Das sind Fragen, die auch mich in meinem Alter umtreiben.“

Apropos Kino: Welcher ist der wichtigste Unterschied zwischen Schauspiel und Schreiben? „Das sind zwei völlig unterschiedliche Jobs. Beim Schreiben kreiere ich alles. Bin Autor, Regisseur, sogar Oberbeleuchter des Universums, das ich er-schreibe. Ich teile mir die Arbeit selbst ein. Keiner holt mich dazu morgens ab – und bringt mir einen Kaffee.“

Existenzieller Horror als Ideenauslöser

Das Verfassen eines Romans verschlingt Energie und Zeit. Was hat Franka Potente dazu gebracht, sich der Tortur (oder der extremen Selbstdisziplin) auszusetzen, nach der Storysammlung „Zehn“ nun diesen Text zu schreiben? „Ein Roman schien die nächste ‚große Herausforderung‘ zu sein“, meint die Film- und Fernsehschauspielerin. „Ich hatte Lust, mich auf diese ‚längere Reise‘ zu begeben. Ich hätte Tims Geschichte nicht kürzer erzählen können.“

Es existiert immer ein Ideenauslöser, der Debütromanciers (und alle anderen) mit Wucht in die Tasten treibt. Potente beschreibt es so: „Es gab vor Jahren das Bild eines gebrochenen, traurigen Riesen. Eines weinenden Mannes, der sich durch eine Menschenmasse schiebt und seine Tränen ob seiner Größe nicht verbergen kann. Eine Metapher für Einsamkeit und innere Stille.“ Für Katja Eichinger dagegen war es ein sterbendes Tier, das schon früh im Text auftaucht. „Dieses Bild verfolgt mich seit Jahren! Es war Mitte der Neunziger, als ich während des Cannes Film Festivals vollkommen gestresst und übermüdet in einem Fischrestaurant vor einem Aquarium stand und sah, wie sich eine Krabbe im Wasser auflöste, in langen qualvollen Schlieren. Damals fühlte ich diesen existenziellen Horror, der mich jetzt noch gelegentlich einholt.“

Statt im berühmten Laurel Canyon der Kreativen lebt Franka Potentes Protagonist im Stadtteil Atwater, begrenzt von Griffith Park (in dem Tim läuft oder flirtet) und dem L.A. River. „Ich kenne Atwater relativ gut, obwohl ich nie dort gelebt habe. Es ist eine Neighborhood, in der Familien, Mittelklasse oder gehobene Mittelklasse, Leute wie Tim oder Peter Heffner leben. Während der Rezession standen dort wahnsinnig viele Häuser zum Verkauf und die Leute haben alle Verluste gemacht.“ Ein Stück Realität, das wirkliche Los Angeles, nicht der Glamour der Reichen und Superreichen, der Promis und Stars. Was macht denn für Katja Eichinger ihr Los Angeles aus, im Gegensatz zu ihrem München? „An L.A. mag ich das Irreale, das Vergängliche der Stadt. Alles wirkt wie ein Filmset, das im nächsten Moment auch schon wieder abgerissen werden könnte. Das hat etwas sehr Befreiendes. In München dagegen fühle ich diese schöne, würdevolle Schwere des alten Europas. Obwohl mich die Maximilianstraße sehr an den Rodeo Drive erinnert: blondierte Locken, Botox, Designer-Bling.“ 

Wie hat sich das angefühlt, nach „BE“, der Biografie ihres verstorbenen Mannes Bernd Eichinger, einen Roman zu verfassen? „Es war aufregend, meine eigene Realität schaffen zu können. Mich mit Themen und Emotionen zu beschäftigen, ohne sie durch Fakten rechtfertigen zu müssen. Aber im Gegensatz zu ‚BE‘ war ich bei ‚Amerikanisches Solo‘ am Ende froh, als ich mich von meinem Protagonisten verabschieden konnte.“ Dieser Nichtheld Harry Cubs ist sehr USA-kritisch. „Vergessen Sie bitte nicht, dass es sich bei Harry um einen hochgradig gestörten Menschen handelt, dessen Selbstgerechtigkeit ihn dazu bringt, ein schreckliches Verbrechen zu begehen“, erklärt Autorin Eichinger. „Ich dagegen mag die kalifornische Toleranz und die genuine Bemühung um Herzlichkeit. Das narzisstische Raubrittertum dort ist weniger angenehm.“

Eine universelle Geschichte

Fragt man aber Franka Potente, ob es menschliche Katastrophen wie in ihrem Roman nur in L.A. oder auch in Berlin gibt, meint sie: „Dahingehend ist die Geschichte universell. Sie hätte so oder so ähnlich auch in jedem anderen Land passieren können.“ Den eigentlichen Kern ihrer Story sieht Potente nämlich woanders: „Die Geschichte von Tim Wilkins ist quasi eine ‚Coming of Age‘-Geschichte eines Endvierzigjährigen. Eine Geschichte einer potenziellen ‚zweiten Chance‘. Der Roman handelt von Familie und Verlust, von einer intensiven Erfahrung seiner Selbst in der Krise. Es stellt ebenso die Frage, ob es sich quasi zu Beginn der letzten Lebensphase ‚noch mal lohnt‘, von vorne zu beginnen. Ich sehe die Geschichte als durchaus lebensbejahend.“ Konnte sie beim Schreiben auch mal lachen über ihre schmerzhaft verirrten Protagonisten? „Der Roman ist alles in allem tendenziell melancholisch. Natürlich gibt es leichte Momente. Vor allem die Figur Larry, Tims alter Freund, ist ein witziger Schlawiner.“ Ihr eigenes Lieblingsbuch? „Mein Lieblingsroman zur Zeit ist ‚Die dunkle Seite des Mondes‘ von Martin Suter, den ich sehr verehre. Übrigens auch die Geschichte eines gebrochenen Mannes, der alles verliert.“

Von Schiffbrüchigen und Schlangen

Über Probleme beim Schreiben sagt Katja Eichinger: „Sorge hat mir nur bereitet, dass ich so besessen davon war, diese dunkle Geschichte über einen Psychopathen zu erzählen. Aber Werner Herzog hat mir geraten, nicht darüber nachzudenken und einfach weiter zu schreiben.“ Verrät sie, woher die Idee zu Harrys lebendigen tödlichen Reptilien stammt, unten in seinem Schlangenkeller? „Während der Arbeit an ‚BE‘ habe ich mich mit Michael Endes „Die unendliche Geschichte‘ beschäftigt“, sagt Eichinger. „Darin wird dem Helden ein Schlangen-Amulett mit auf dem Weg gegeben. Bei C. G. Jung und dem Mythologen Joseph Campbell habe ich über die Symbolik der Schlange nachgelesen. Dabei kam mir eine Geschichte aus meiner Kindheit in Erinnerung, in der ein Schiffsbrüchiger auf einer einsamen Insel strandet. Eines Tages entdeckt er ein leeres, warmes, unterirdisches Schlangennest, in das er sich nackt hinabgleiten lässt. Er fühlt sich endlich wieder sicher und aufgehoben. Immer länger bleibt er im Schlangennest, wird dabei zunehmend schwächer, verhungert fast. Und er merkt: Wenn er überleben will, dann muss er das Schlangennest für immer verlassen. Dann begann ich, darüber nachzudenken, wie dieses Schlangennest im Hier und Jetzt aussehen könnte.“ Was sagt denn ihr Harry in L.A. zur Mythologie? „Das ist ein weißer Fleck auf seiner kulturellen Landkarte. Er ertränkt sein Selbstmitleid lieber in Dostojewski!“

Katja Eichinger: Amerikanisches Solo. Metrolit, 288 Seiten, 19,90 Euro, als E-Book erhältlich

Franka Potente: Allmählich wird es Tag. Piper, 299 Seiten, 19,99 Euro, als E-Book erhältlich

Hörbuch
Gelesen von Heikko Deutschmann, DAV, 400 Min./5 CDs, 29,99 Euro

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