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Portrait: Tina Schraml (ts)

Anne Garrétas Liebesroman „Sphinx“

Jenseits der Grammatik der Geschlechter

Die Übersetzung von Anne Garrétas Debütroman „Sphinx“ ist eine späte Offenbarung: Die Fragen zur Geschlechteridentität, die ihr Liebesroman aufwirft, sind heute ebenso dringlich wie damals. 

Wenn man etwas Radikales tut, dann muss man Erfolg damit haben – sonst überlebt man es nicht“, sagt Anne Garréta im Gespräch nach der Lesung im Hamburger Nochtspeicher. „Denn wenn du keinen Erfolg hast, dann sieht es niemand und du verlierst deinen Glauben in die Möglichkeit, die bestehenden Verhältnisse zu verändern.“ Die französische Schriftstellerin, die heute an der Duke University in North Carolina Literaturwissenschaften lehrt, hat vor 30 Jahren etwas Radikales getan und mit ihrem experimentellen Bestseller die französische Literaturwelt erschüttert. Ihr Debütroman „Sphinx“ stellte die klassische Geschlechterordnung infrage, denn sie erzählt eine Liebesgeschichte im Pariser Nachtleben, die sich jenseits der Normen abspielt. Und das betrifft nicht nur das Milieu, das sie beschreibt, sondern vor allem die Sprachnormen – die Grammatik der Geschlechter: „Das französische Frauenbild in den frühen Achtzigern irritierte mich sehr. Ich wollte deshalb ein Buch schreiben, das völlig frei von geschlechtlichen Zuschreibungen ist. Um den Lesern die Freiheit zu lassen, sich eine Liebesgeschichte ohne die Determination der standardisierten Geschlechterrollen vorzustellen.“

Dank des Teams des edition fünf-Verlages liegt dieses kunstvolle Sprachexperiment nun auch endlich in deutscher Sprache vor – und stellte die Übersetzerin Ale-xandra Baisch ebenfalls vor ganz neue Herausforderungen, um die Grammatik der Geschlechter auch im Deutschen zu umschiffen – denn jede Sprache hat ihre eigenen Rollenklischees. Dass sich dieser Text auch drei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen noch so aktuell und zeitlos liest, liegt nicht in der tragischen Liebesgeschichte selbst begründet. „Ich musste diese Art Dramaturgie nicht erfinden, die großen Klassikerautoren haben sie bereits oft erzählt. Der Punkt ist, ich wollte sie auf eine neue Art erzählen“, erklärt Garréta. Das ist ihr auf ganz einzigartige Weise gelungen, denn durch die Auslassungen ist die eigene Vorstellungswelt he-rausgefordert, die Leerstellen zu füllen und sie immer wieder infrage zu stellen. Das „Ich“ in diesem Roman ist ein Einzelgänger, lässt sich durch das Pariser Nachtleben treiben, bringt als DJ die Massen im Nachtclub „L’Apocryphe“ zur Ekstase und verliebt sich in A***, eine schwarze, schillernde Persönlichkeit, die im Cabaret „Eden“ für ihre Tanzperformances gefeiert wird. Beide Charaktere sind auf sehr gegensätzliche Weise egozentrisch, gemeinsam ist ihnen die Rastlosigkeit, mit der sie den Moment feiern. Die Liebe von der Fiktion – die sich beide in langen Gesprächen ausmalen – in die Wirklichkeit zu holen, erweist sich nach anfänglicher Euphorie jedoch als schwierig.

Als ebenso schwierig erweist es sich, über den Inhalt dieses Buches zu schreiben, ohne in dieselben Fallen der Geschlechtergrammatik zu tappen, die es so elegant umgeht. Dazu sagt Anne Garétta: „Der Prozess war simpel, ich musste nur alle Orte in der Sprache identifizieren, wo das Gendersystem Zuschreibungen vornimmt. Doch der Trick ist, dass es einen doppelten Geschlechter-Aspekt gibt: Da ist einmal die Kategorisierung und die liegt wortwörtlich in der Grammatik der Sprache. Wenn man diesen Aspekt erkannt hat, ist er logisch und man kann damit spielen.“ Zusätzlich muss aber auch der Fokus auf den Körper verändert werden, er muss ebenfalls in seine Teile zerlegt werden, um eindeutige Zuschreibungen zu umgehen. Deshalb liegt der Blick zwar auf A***s Körper, aber nur auf Teilen des Körpers. „Er ist zerstückelt und zwar aus einem guten Grund, denn es verändert die Wahrnehmung. Und das ist der ursprüngliche Grund dieses Experiments – die Wahrnehmung des Selbst zu verändern“, so Garréta. Die Leerstellen sind tatsächlich nicht hinderlich, um in die Logik der Geschichte einzutauchen – im Gegenteil, durch die fehlenden Informationen wird die Vorstellungskraft angefeuert. Doch schnell stößt man auch auf seine ureigenen Stereotypen: Ständig schwankt man als Leser zwischen der Vorstellung, dass das Ich, das die Geschichte erzählt, eine Frau oder ein Mann ist – da werden Indizien wie das Theologiestudium oder die DJ-Tätigkeit als männlich identifiziert. Oder aber die Tatsache, dass die Schriftstellerin selbst eine Frau ist, die sich in Genderdebatten einmischt, und ihre Hauptfigur deshalb eine Frau sein muss. Zwangsläufig liefert dieser Text uns den eigenen Ideen und Vorurteilen zu den Geschlechterrollen aus – und die gründen auf persönlichen Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten. Anne Garréta wirft uns auf uns selbst zurück und lässt uns darüber nachdenken, wie unsere Sprache unser Denken, unsere Identität und letztlich auch die Gesellschaft formt.

Anne Garréta: Sphinx
Übersetzt von Alexandra Baisch
Mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel
edition fünf, 184 Seiten, 19,90 Euro

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