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Fotos: Reiner Mnich

August 1914

Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden

Ein Projekt des Netzwerks der Literaturhäuser eröffnet ungewohnte Perspektiven auf den Beginn des Ersten Weltkriegs.

Am 28. Juni 1914 saß der Gymnasiast Gavrilo Princip in einem Kaffeehaus in Sarajevo und dachte über Selbstmord nach. Nach einem gescheiterten Anschlag auf den Thronfolger Österreich-Ungarns war er in der Menge untergetaucht. Früher oder später würde man ihn verhaften. Als der Wagen Franz Ferdinands jedoch direkt vor dem Café hielt – der Fahrer hatte sich in der Route geirrt und musste den Rückwärtsgang einlegen –, stand Princip auf und gab zwei Schüsse ab. Er setzte eine Mechanik von Allianzen und alten Feindschaften in Gang. Auf das, was wir im Geschichtsunterricht die Julikrise nennen, folgten zwischen dem 28. Juli und dem 8. August fünf Kriegserklärungen.

99 Jahre später bat das Netzwerk der Literaturhäuser 23 Autoren und Autorinnen aus 23 europäischen Städten um Essays. Sie wühlten sich durch Zeitungsarchive, lasen Briefe und Gedichte, Tagebücher, Verlautbarungen, Stellenanzeigen und Werbung aus dem Sommer 1914 und ließen sich von diesem Material zu Texten inspirieren. Im Mai und Juni stellen sie in Literaturhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Ergebnisse vor. Bei der Eröffnungsveranstaltung am 9. Mai im Berliner Literaturhaus, zu der 17 der Beiträger anreisten, zeichnete sich eine faszinierende Vielfalt der Arbeitsweisen und Perspektiven ab. 

So untersucht etwa Bettina Balàka die Konflikte zwischen Slawen und Deutschen, die in Graz und dem Herzogtum Steiermark schon lange schwelten. In Maria Rast/Ruše, berichtet sie, feierten am 28. Juni die slowenischen Sportvereine ihr Sommerfest. Bald heißt es, die Slowenen gäben sich anlässlich der Ermordung Franz Ferdinands ausgelassenen Festlichkeiten hin. Im Laufe des Sommers eskaliert die Situation. Balàka zitiert aus den Erinnerungen des späteren KPÖ- Politikers Ernst Fischer: „Vor dem Südbahnhof, in einem Knäuel heulender, kreischender, wahnwitziger Menschen wird ein Mann zu Boden geschlagen, zertrampelt, zerfleischt. ,Ein serbischer Spion!‘ hat irgendwer gerufen.“

In München wird zur selben Zeit das Café Fahrig verwüstet, weil dessen Kapelle keine patriotischen Lieder spielt. Die Sympathie der Bürger gilt anscheinend nicht dem geschädigten Inhaber, sondern dem Mob, denn zwei Tage später bittet Franz Fahrig in den Münchener Neuesten Nachrichten um „Vertrauen und Wohlwollen“ des „verehrten Münchner Publikums“. Der BR-Redakteur Lukas Hammerstein findet überhaupt die treffendsten Zitate: „Mitbürger!“, schreibt der Münchner Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus, „Meidet alkoholische Getränke! Zur Hebung der Stimmung sind sie nicht nötig, wir begeistern uns jetzt an unserer Pflicht!“

Von der vielzitierten „blinden Kriegsbegeisterung“ kann nicht die Rede sein: Noch im August veranstalten insbesondere die Sozialdemokraten große Friedensdemonstrationen. Trotzdem stimmt die SPD-Führung im Reichstag für Kriegskredite. Die pazifistischen Stimmen werden leiser. Die Leipziger Volkszeitung, weiß Angela Krauß zu berichten, ist unter den wenigen Medien, die ihnen überhaupt noch Raum gewähren.

Aus 23 Essays entsteht ein ungeheuer differenziertes, frisches Bild des „August-Erlebnisses“. Die Autorinnen und Autoren sind ausgesprochen klug gewählt: So beleuchtet etwa Ayfer Tunç (Istanbul) die Schadenfreude der Osmanen und liefert eine scharfsichtige Analyse ihres Kriegseintritts. „Was uns dieses Projekt zeigen kann“, sagte Lukas Hammerstein, als die Eröffnungsveranstaltung in Berlin nach Mitternacht zu Ende ging, „ist doch, was für ein schönes, kompliziertes und zerbrechliches Gebilde Europa ist.“ Alle Texte sind in der 254. Ausgabe der horen im Wallstein Verlag erschienen.

Infos zu Programm & Lesungen:
literaturhaus-berlin.de

Diverse: Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden – August 1914: Autoren blicken auf die Städte Europas. Wallstein, 400 Seiten, 16,50 Euro

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