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Portrait: Meike Dannenberg (md) | Fotos: Peter-Andreas Hassiepen

Debütantinnenball: Olga Grjasnowa

Sprache ist Macht

In der literarischen Welt ist derzeit jung, wer nach 1970 geboren ist, und sehr jung, wer eine Acht im Geburtsjahr vorweisen kann. Nicht weniger als vier sehr junge Autorinnen, die ein interessantes, ein poetisches oder anrührendes Buch geschrieben haben, stellen sich in diesem Bücherfrühling dem Leser vor.

Sprache bedeutet Macht. Das lernt Mascha schon in jungen Jahren, als sie aus Aserbaidschan nach Deutschland kommt und ihre Eltern auf das Ausländeramt begleitet. „Wer kein Deutsch sprach, hatte keine Stimme, und wer bruchstückhaft sprach, wurde überhört. Anträge wurden entsprechend der Schwere der Akzente bewilligt.“ Und es ist nicht die einzige Erfahrung, die die Protagonistin mit ihrer Autorin Olga Grjasnowa, Jahrgang 1984, teilt. Auch sie wurde in Baku geboren und wuchs im Kaukasus auf und kam elfjährig mit ihren Eltern, ohne Sprachkenntnisse, nach Deutschland. Als jüdische Kontingentflüchtlinge. „Das ist inzwischen mein Lieblingsausdruck“, sagt Grjasnowa. Das Wort „Heimat“ hingegen findet sie einfach nur unmöglich. „Für mich klingt das wie von einem russischen Parteiplakat.“

Lieblingswort: Kontingentflüchtlinge

Ihre anfängliche Sprachlosigkeit in dem fremden Land holte die Autorin schnell nach. „Heute schreibe ich ausschließlich auf Deutsch, weil es die einzige meiner Sprachen ist, bei der ich wirklich weiß, was ich tue. Mein russischer Wortschatz ist doch sehr limitiert – gerade was Fachtermini und Slang angeht.“ Olga Grjasnowa absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. In ihrem Buch zeigt sie an vielen kleinen Beispielen, wie gerade das Erlernen einer fremden Sprache für deren Nuancen sensibilisiert. Protagonistin Mascha beherrscht sieben Sprachen und studiert Dolmetscherwissenschaften. Ihr Ziel: bei der UN arbeiten. Und sie liebt Elias – wenn er sich nicht gerade das Bein bricht und sie in seiner Hilflosigkeit nervt. Dann kann es passieren, dass sie ihn mit ihrem Exfreund Sami betrügt oder mit ihrem besten Freund Cem um die Häuser zieht, der ebenfalls Dolmetscher werden will. Auch die beiden sind hochintelligente, multikulturelle Charaktere. Migration und Anpassung sind ein wiederkehrendes Thema in der Geschichte. Durch ihre Erfahrungen entwickeln alle drei Figuren einen Stolz, der sie dazu anspornt, besser als die Deutschen mitsamt ihrer „kulturellen Hegemonie“ zu werden.

Hinter Maschas Fassade versteckt sie jedoch auch ihr Trauma, ausgelöst durch ein Erlebnis während des Pogroms gegen die Armenier in Baku. Nicht nur das Bild ihres, dann tatsächlich versterbenden Freundes Elias, verfolgt sie in ihren Gedanken, sondern auch das Bild der Leiche, die ihr als kleines Mädchen vor die Füße fiel. „Diese Geschichte wurde mir durch Zufall von einer Bekannten erzählt und hat mich seitdem nicht wieder losgelassen“, erläutert Grjasnowa. Dieses Prosa-Debüt entlarvt außerdem die vermeintlich geglückte Migration als eine Flucht nach vorn, in eine Nischenwelt der Entwurzelten.

„Welthaltigkeit“? „Fräuleinwunder“?

Bei jüngeren Autoren, vor allem bei welchen, die sehr nah an ihrer eigenen Lebenswelt erzählen, spricht man schon länger von „Welthaltigkeit“, eine Worthülse, die ähnlich katastrophal wie „Fräuleinwunder“ anmutet. Warum sind schreibende, junge Frauen ein Wunder? Warum ist Alltag im Roman die ganze Welt? Einige dieser jungen Autorinnen erzählen nah dran an ihren Erfahrungen, lassen den Leser so etwas wie den Sound der Jugend erleben, mit all seinen schrägen und zarten Tönen. Liebe und Beziehung spielen in ihren Büchern erstaunlicherweise eine weniger zentrale Rolle als der fehlende Zusammenhalt oder das Auseinanderbrechen von Familie, die Entwurzelung in der Gesellschaft und der Tod.

Drei der jungen Schriftstellerinnen erzählen aus der ersten Person, einem Ich, das in Alter und Geschlecht ihnen in etwa entspricht. Fiktion und Autobiografisches lassen sich so wohl nur schwer trennen, aber das ist auch überflüssig, denn die Romane machen die daraus entstehende Intimität aus. So öffnet Olga Grjasnowa durch ihre Protagonistin, die, wie sie selbst, aus Aserbaidschan nach Deutschland immigrierte, die Tür in eine nach außen perfekt assimilierte Migrationskultur. Doch auch wenn Mascha sieben Sprachen spricht, bleibt sie stumm, wenn sie sich an ihre Erlebnisse als Kind im Bürgerkrieg in Baku erinnert.

Gute Voraussetzungen

Doch die Autorinnen sind Realistinnen, distanzieren sich auf Nachfrage vom erzählerischen Ich. Lisa-Maria Seydlitz fängt Gefühle des Sommers ein, erzählt in der ersten Person, Juno, vom Verlust des Vaters und der Kindheit. Juno sucht etwas, das sie verloren hat und wird dafür belohnt. Cornelia Travniceks Protagonistin, in ihrer geballten Wut auf die Welt und das Verlassen werden, ist authentisch und leidenschaftlich, der Roman eine Coming-of-Age Geschichte unter drastischen Bedingungen. Nur Nina Bußmann versetzte sich in einen Protagonisten, der durch Alter und Geschlecht ihrer eigenen Person diametral entgegengesetzt ist – und löste diese selbstgestellte Aufgabe mit einer Bravour, die ihr in Klagenfurt den 3-Sat-Preis einbrachte.

Alle diese jungen Debütantinnen haben bereits Geschichten veröffentlicht, Stipendien erhalten, Kurzgeschichtenpreise gewonnen oder sogar literarische Studiengänge besucht. Ihnen allen sind Prädikate verliehen worden, die sie weitergebracht, gefördert und aufgebaut haben, bis zu diesem ersten Buch in einem namhaften Verlag. Noch nie war die literarische unabhängige Kultur in Deutschland so produktiv wie zurzeit: Lesebühnen, Wettbewerbe, Poetry-Slams und Blogs. Stipendien, Schreibgruppen und Autorenforen liefern Kritik, finanzielle Starthilfe und Bestätigung. In der Peripherie dieser Schreib- und Lesekultur entwickelten sich diese Romane, die einmal mehr Kritiker und Leser aufhorchen lassen werden: so jung und so gut?! Kein Wunder. Eine erfreuliche Entwicklung.

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer der Birken liebt. Hanser, 288 Seiten, 18,90 Euro

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