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Portrait: Stefan Volk (smv) | Fotos: Albert Bigelow Paine

Ungehemmt dahingeplaudert

Mark Twains Autobiografie ist so außergewöhnlich wie ihr Schöpfer. Zügellos, scharfsinnig, überbordend und stets der Zeit voraus. 100 Jahre war sie unter Verschluss. Jetzt liegt sie erstmals auch in deutscher Sprache vor.

Wer sich für die nackten Lebensdaten von Samuel Langhorne Clemens, besser bekannt als Mark Twain, interessiert, findet sie am Ende dann doch noch. Versteckt im Zusatzband zu seiner mittlerweile ganz und gar nicht mehr „geheimen“ Autobiografie, ziemlich weit hinten auf den Seiten 311 bis 315:

„1835. Geboren am 30. November in Florida, Missouri, als sechstes Kind von John Marshall und Jane Lampton Clemens. Von seinen sechs Geschwistern erreichten nur Orion, Pamela und Henry das Erwachsenenalter …“
Wer mit solchen Zahlen und Fakten jedoch am allerwenigsten anzufangen wusste, war Mark Twain selbst. Trotzdem versuchte er ab 1870 immer wieder, einen Text zu verfassen, der sich an derlei Eckdaten entlang hangelte, eine Autobiografie im konventionellen Sinne also. Doch wie hätte das je gut gehen können? Da feiert einer als Romancier den schlechten Umgang mit Lausbuben, Schmuddelkindern und Tagedieben, die nie um eine Ausrede verlegen sind, sich finten – und einfallsreich durchs Leben schummeln, und soll sich dann, wenn es um sein eigenes Leben geht, ins Korsett ehrenwerten Berichterstattens zwängen lassen? Die Autobiografie von Samuel L. Clemens hätte das wohl werden müssen. Die von Mark Twain ist es geworden.

Der „alte, der uralte, rigide und schwierige“ Plan einer linearen, faktentreuen Lebenschronologie, „jener Plan, der mit der Wiege beginnt und einen schnurstracks ins Grab treibt, ohne dass einem unterwegs Seitenabstecher erlaubt wären“, dieser Plan geht für den abenteuersüchtigen, reiselustigen Schriftsteller nicht auf. Twain verwirft ihn, da „die Seitenabstecher doch das eigentliche Leben unserer Lebensreise ausmachen“, und entwickelt (k)einen neuen. Nachdem es ihm nicht gelungen ist, seine Autobiografie aufzuschreiben, fängt er 1904 während eines achtmonatigen Florenzaufenthaltes an, sie zu diktieren. Einfach nur draufloszuschwatzen, im Grunde planlos, empfindet er als ungeheuer befreiend. In einem Brief an den Schriftsteller William Dean Howells jubelt er:

„Ich habe eine Entdeckung gemacht! Und ich reiche sie weiter – an Sie. Sie werden nie erfahren, wie viel Vergnügen Ihnen entgangen ist, bis Sie mit dem Diktat Ihrer Autobiographie begonnen haben; dann werden Sie schmerzlich feststellen, dass Sie dies Ihr ganzes Leben lang hätten tun können, wenn Sie nur das Glück gehabt hätten, darauf zu kommen. Und Sie werden erstaunt sein (& entzückt), wenn Sie erkennen, wie ähnlich es dem Sprechen ist & wie echt es klingt & wie schön & dicht sich eins nach dem anderen zusammenfügt & welch klare & luftige & urwüchsige Frische es hat & wie reizend & verehrungswürdig die Abwesenheit jeglicher Anzeichen von Hemdstärke & Bügeleisen & Arbeit & Umständlichkeit & all diesem Gehabe ist!“

Die neue legere Methode ist jedoch nur das eine. Mit ihr legt Mark Twain, den William Faulkner später „unser aller Großvater“ nennt und über dessen „Huckleberry Finn“ Ernest Hemingway sagen wird, dass letztlich die gesamte moderne US-Literatur darauf zurückgehe, endgültig auch die Pose des Chronisten ab. Anstatt seiner Vita hinterher zu schreiben, plaudert er von den Dingen des Tages und schweift dann – ganz großväterlich – ab zu einem, irgendeinem Erlebnis aus seiner Vergangenheit. Nicht nur die Zeiten vermischten sich da; auch die Sphären von „Dichtung und Wahrheit“, die schon Goethe nicht auseinanderhalten mochte. Twain nennt nun das, worauf es ihm ankommt, nicht „Wahrhaftigkeit“, aber es geht in dieselbe Richtung:
„Was für einen winzigen kleinen Bruchteil des Lebens machen die Taten und Worte eines Menschen aus! Sein wirkliches Leben findet in seinem Kopf statt und ist niemandem bekannt außer ihm. Den ganzen Tag und jeden Tag mahlt die Mühle seines Hirns, und seine Gedanken (die nichts anderes als die stumme Artikulierung seiner Gefühle sind) sind seine Geschichte, nicht jene anderen Dinge.“

Dieses, sein Innenleben wollte Twain ungehemmt offenlegen, und so schonungslos, dass ihm eine Veröffentlichung zu Lebzeiten unmöglich erschien. Bald jedoch musste er sich eingestehen, dass er sich selbst gegenüber nie so unerbittlich ehrlich hätte sein können, wie er es eigentlich vorhatte. Abermals änderte er das Konzept und zum heimlichen roten Faden entwickelte sich die Idee der Autobiografie selbst, der Verschriftlichung einer Identität mit alldem, was damit einherging, dem unzuverlässigen Erinnern, der trügerischen Eigenwahrnehmung. Solche Themen kehren in dem voluminösen Werk immer wieder und färben auch Twains Blick auf seine Umwelt ein: seine Anekdoten, seine philosophischen oder politischen Betrachtungen, die Charakterstudien.

In der Rückschau auf seine Zeitgenossen und die Zeitgeschichte blickt er auch auf die Zeit, die (nicht nur wortwörtlich) in jener und jenen steckt und sie im Nachhinein noch verändert. Und weil er sich wenigstens hier nicht einschränken lassen wollte, weil er nach Lust und Laune – „frank und frei und schamlos“ – lästern und schimpfen und auch weil er mit einem editorischen Trick den Urheberschutz seiner Romane verlängern wollte, verfügte er, dass die vollständige Autobiografie erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. Auch wenn ihr Geheimnis all die Jahre nicht allzu perfekt gehütet wurde, vieles durchsickerte und manches vorab veröffentlicht wurde, erschien in den USA dann pünktlich im Jahr 2010 der erste Teil von Twains literarisch-biografischem Vermächtnis, der jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Zwei weitere Teile stehen noch aus.

Die akribisch zusammengetragenen Anmerkungen, Ergänzungen und Richtigstellungen des mitgelieferten Zusatzbandes bringen ein wenig Ordnung in das wild wuchernde Wortgestrüpp Twains. Durch die akademische Hintertür schleicht sich so doch noch jene Linearität ein, die der Autor eigentlich umgehen wollte. Allerdings werden ohnehin wohl nur die Wenigsten den Zusatzband in Gänze von vorne nach hinten bewältigen. Immerhin aber bietet er eine wunderbare Möglichkeit, das Gelesene punktuell genauer zu beleuchten und einzuordnen. So schlägt er eine Brücke zurück in jene Zeit, in der Mark Twain seine Autobiografie diktierte, und auch in die Zeiten, von denen er darin erzählt. Dem kuriosen Einfluss der Zeit hat Mark Twain seine Lebensgeschichte damit nicht nur im Rückblick ausgesetzt, sondern auch im Vorgriff auf die Zukunft, in der sie veröffentlicht werden sollte. Nach mehr als hundert Jahren ist Mark Twains Autobiografie eine andere als diejenige, die er damals aufschreiben ließ.

Mark Twain über …

Mark Twains Autobiografie birgt einen gewaltigen, in seiner Fülle fast unüberschaubaren, überquellenden Schatz an literarischen und zeithistorischen Kostbarkeiten, in den man praktisch willkürlich hineingreifen, hineinlesen kann. Auch hinweglesen darf man getrost über manches, aber eines bleibt in jedem Fall hängen: die schmerzlich-schönen Erinnerungen des Vaters an seine Tochter Olivia Susan, genannt „Susy“, die erst 25 Jahre alt war, als sie im August 1896 an den Folgen einer Gehirnhautentzündung starb.

… seine Tochter Susy

„Als sie dieses eine letzte Mal sprach, sagte sie nur ein Wort, und das verriet ihre ganze Sehnsucht. Sie tastete mit den Händen umher und fand Katy, und sie streichelte ihr Gesicht und sagte: ‚Mama’“.

Keinerlei väterlicher Neid schwingt in diesen Zeilen mit. Es ist vielmehr bezeichnend für den großen Fabulierer Mark Twain, dass er es nicht als traurig oder tragisch empfand, dass seine sterbende Tochter in ihren letzten Momenten die langjährige Hausangestellte Katy Leary fälschlicherweise für ihre Mutter hielt. Für ihn war es tröstlich, dass Susy zuletzt noch diese „schöne Illusion gewährt wurde – dass die letzte Vision, die auf dem beschlagenen Spiegel ihres Geistes ruhte, die Vision ihrer lieben Mutter war und letzte Gefühlsregung ihres Lebens die Freude und der Friede jener imaginierten Gegenwart.“

Es ist die Vorstellung, die zählt. Auch die, die sich Susy als junges Mädchen von ihrem Vater macht. Im Alter von dreizehn Jahren beginnt sie seine Biografie aufzuschreiben, die er selbst nun, wie er beteuert, im Verlaufe seiner Autobiografie vollständig wiedergibt:

„Die Rechtschreibung ist häufig hoffnungslos daneben, aber es war Susys Rechtschreibung, also soll es dabei bleiben. Ich liebe sie und kann sie nicht entweihen. Für mich ist sie Gold. Sie zu korrigieren hieße, sie zu verschlechtern, nicht sie zu verfeinern. Es würde sie verderben. Es würde ihr alle Freiheit und Biegsamkeit nehmen und sie steif und förmlich machen. Selbst wenn sie ganz extravagant ist, bin ich nicht schockiert. Es ist Susys Rechtschreibung, sie hat ihr Bestes gegeben – und in meinen Augen könnte nichts es besser machen.“ Was für eine Liebeserklärung! Zum Heulen traurig und schön.

… die amerikanische Tagespolitik

Aber Twain kann auch anders. So wehmütig und zärtlich er seine Tochter engelsgleich aus dem Gedächtnis wieder auferstehen lässt, so spitzzüngig, ironisch und bisweilen sarkastisch rechnet er mit seinen Zeitgenossen ab: den Korrupten, den Eitlen, den heuchlerischen Frömmlern und selbstgerechten Nationalisten. Am Montag, den 12. März 1906 kommentiert er die tagesaktuelle Berichterstattung bzw. Nichtberichterstattung über ein Massaker, das US-Militärs unter der Führung von Generalmajor Leonard Wood auf den Philippinen an 600 einheimischen Moros (laut Zusatzband „eine Ansammlung von dreizehn sprachlich-kulturellen Gruppen“) verübt haben:

„Der Feind zählte sechshundert Personen – einschließlich Frauen und Kindern –, und wir vernichteten ihn vollständig und ließen nicht einmal ein Baby am Leben, das nach seiner toten Mutter hätte schreien können. (…) Am Freitagmorgen wurde die glänzende Nachricht mit glänzenden Schlagzeilen aufgemacht, in jeder Zeitung dieser Stadt von vier Millionen und dreizehntausend Einwohnern (New York; d. Red.). Doch einen entsprechenden Hinweis in den Leitartikeln dieser Zeitungen sucht man vergebens.“

Am Mittwoch, den 14. März fügt er hinzu: „Ich hoffe, dieses Schweigen wird anhalten. Es ist nicht weniger beredt, beschädigend und wirksam als die empörteste Stellungnahme, glaube ich. Wenn man bei Lärm einschläft, schlummert man friedlich weiter; sobald der Lärm jedoch aussetzt, wird man von der Stille geweckt.“

… das Menschengeschlecht

Mark Twain allerdings wollte – wenigstens in seiner „geheimen Autobiografie“ – nicht über etwas schweigen, was er offenbar für eine nationale „Schande“ hielt. Einmal mehr musste er sich in diesem Frühjahr 1906 in seiner Ansicht bestärkt fühlen, dass es, milde ausgedrückt, moralisch nicht allzu gut um das Menschengeschlecht bestellt sei. In den New Yorker Diktaten hatte er bereits am Dienstag, den 23. Januar 1906 unter der Überschrift „Der Charakter des Menschen“ kein gutes Haar an seinen Artgenossen gelassen, am Menschen:

„Denn seine Geschichte, in allen Breiten, allen Zeiten und unter allen Umständen, erbringt Ozeane und Kontinente von Beweisen dafür, dass er von allen Geschöpfen, die erschaffen wurden, das verabscheuungswürdigste ist. Von der ganzen Brut ist er der Einzige – der Alleinige –, der Bosheit besitzt. Diese ist das niederträchtigste aller Gefühle, Temperamente und Laster – das hassenswerteste. Das, was ihn unter Ratten, Maden, Trichinen stellt.“

So hassen kann den Menschen natürlich nur einer, der ihn liebt. Allerdings, und das charakterisiert Mark Twain vermutlich als Persönlichkeit und Schriftsteller gleichermaßen, den Menschen als Individuum, als querdenkenden, störenden, unangepassten, als Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder als Susy, unschuldiges, unverdorbenes Kind, aber nicht als Massenmensch, Gesellschaftstier: „Wir sind verständige Schafe; wir warten ab, um zu sehen, wohin die Herde läuft, und dann laufen wir mit.“ Twains abschließendes Urteil über den Homo sapiens fällt an jenem Dienstag in New York über hundert Jahren vernichtend aus: „selbstsüchtig noch im Tod.“

Ob er damit auch sich meinte? Immerhin beginnt er sein Vorwort mit den Worten: „In dieser Autobiografie werde ich stets im Hinterkopf behalten, dass ich aus dem Grab spreche.“ Wie viel Selbstsucht, wie viel Eitelkeit, wie viel Nachruhmsucht in den folgenden Seiten stecken, mag jeder Leser, jede Leserin selbst beurteilen. Dass in Twains Lebenserinnerung aber jede Menge Leidenschaft, Liebe und Liebenswürdigkeiten schlummern, lässt sich unmöglich leugnen. Sollte Mark Twain, als er all diese humorvollen, nostalgischen, bissigen und schmerzlichen, poetischen, politischen und philosophischen Passagen diktierte, wirklich nur sich selbst im Sinn gehabt haben, hätte er damit indirekt bewiesen, dass Selbstsucht durchaus ein Gewinn für viele sein kann; zumindest solange sie sich in der Kunst austobt.

Mark Twain: Meine geheime Autobiographie. Übersetzt von Hans-Christian Oeser, Andreas Mahler. Zwei Bände im Schuber, 1129 Seiten, Aufbau Verlag, 49,90 Euro

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