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Portrait: Elisabeth Dietz (ed) | Fotos: Stefan Klüter

Verena Güntner

Zahnlücken

Verena Güntners Debütroman enthält Chlor und Colaschlangen, Bier und Hitze, Schamhaare, Mortadella, Höhenangst und eine besondere Mutter-Sohn-Beziehung.

„Die Jungs lehnen am Bauzaun. Ich gehe langsamer und setze mein geschmeidigstes Lächeln auf, öffne den Reißverschluss meiner Jacke, halte sie auf und lass den Wind rein, drehe ein, zwei Kurven. ,Hab sie gefickt‘, rufe ich, ,schöne Stöße.‘“

Das ist Luis, Hauptfigur und Ich-Erzähler von Verena Güntners Roman „Es bringen“. So ungefähr kommt er ins Blickfeld des Lesers, lässig und unter Spannung, wie nur Sechzehnjährige es sein können. Er hat die Wette gewonnen, wie immer. Gleich wird er seinen Kumpels in allen Einzelheiten erzählen, wie es mit Jenny war. Luis ist einer der Charaktere, die man ab der ersten Seite reden hört und gehen sieht. Er hat eine starke, unverwechselbare Erzählstimme. Und er weiß, dass man einen Plan braucht. „Wenn du nicht dumm sterben willst“, sagt Luis, „musst du dir Sachen genau anschauen, sie üben, und zwar: bis du sie kannst.“ Er ist der Trainer und er ist die Mannschaft, und sobald er mit den Fickwetten genug Geld zusammengekriegt hat, wird er sich das auf den Rücken tätowieren lassen, auf Englisch, natürlich. Seine Höhenangst hat er sich schon abtrainiert, auf dem Balkon der Wohnung im 15. Stock. Luis ist ganz oben.

Woraus Luis entstanden ist, kann Verena Güntner nicht mehr sagen. „Er war einfach irgendwann da.“ Wir sitzen im Café A.Horn in Kreuzberg, am ersten Regentag nach einer Hitzewelle. Ihre Stimme ist dunkel, ihr Lächeln groß. „Mich in Figuren hineinzuversetzen fällt mir leicht“, sagt sie, „wegen meines anderen Jobs. Lady Macbeth hat ja auch erst mal nichts mit mir zu tun.“ Nach ihrer Schauspielausbildung am Salzburger Mozarteum wurde Verena Güntner 2003 festes Ensemblemitglied am Theater Bremen. „Man gehört denen komplett“, erzählt sie. „Am Anfang musste ich mich hocharbeiten. Als ich dann die großen Rollen spielen durfte, hatte ich fünf oder sechs laufende Stücke, die alle um die drei Stunden gingen, und keine Freizeit mehr. Keine Zeit zum Lesen, gar nichts.“ 2007 kündigte sie. „Das war so ein Befreiungsschlag. Ich hatte keine Agentur, kein Engagement und wusste nicht, wohin.“ Sie zog nach Berlin. In den ersten Tagen in der neuen Wohnung schrieb sie „wie im Rausch“ den Text, der jetzt weitgehend unverändert am Anfang ihres Romans steht. „Vielleicht hat mich ein männlicher Charakter interessiert, weil ich am Theater immer nur Frauenrollen spielen durfte, und die sind leider oft weniger spannend als die Männerrollen, besonders bei den jugendlichen Figuren. Mit diesem Text nahm sie am Open Mike 2012 teil und gewann im Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis den mit 10 000 Euro dotierten Kelag-Preis. Für „Es bringen“ hat sie diesem Text wenig hinzugefügt. Sie lässt die Konflikte, die sie in ihm angelegt hat, sich entfalten.

Jenny ist eine, die beim Ficken nie die Augen zumacht und Luis betrachtet ihren Arsch und ihre Fähigkeiten mit Respekt, aber die wichtigste Frau in seinem Leben ist Ma. Luis’ Mutter ist gerade doppelt so alt wie er, fast noch ein Mädchen, eher Komplizin als Erziehungsberechtigte. Er regis­triert ihre „geilen Beine“ und ihren „noch immer prallen Hintern“. Sie pfeift ihm zu, durch die Lücke in den Vorderzähnen, die sie mit ihm gemeinsam hat, und er pfeift zurück. „Ich wollte diese Beziehung, die vielleicht einige Tabus berührt, wertfrei erzählen“, sagt Verena Güntner. „Das geht nur aus Luis’ Perspektive.“ Seltsam und anrührend ist die Szene, in der der verkaterte Sohn die verschlafene Mutter morgens ins Bett zurückträgt und ihr die Zähne putzt. Luis und Ma sind ei­nander so nahe, dass sie manchmal dieselbe Zahnbürste benutzen. Gleichzeitig ist sie Luis fremd. Über seinen Vater weiß er nur, dass er Kampfsportler war, „genauso stark wie du“, und über seine Großeltern, dass Ma ihn bekommen hat, „damit die aufhören, sie zu verprügeln“.

Die Autorin deutet Mas Vergangenheit nur an: „Ich stelle mir vor, dass sie aus ganz anderen sozialen Verhältnissen kommt“, sagt sie. „Die hat einen großen sozialen Abstieg hingelegt und weigert sich, ohne dass es ihr bewusst wäre, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Diese Anarchie hat mich fasziniert.“ Auch der Leser erfährt nur andeutungsweise von Mas Vergangenheit. Luis erinnert sich an die Reihe gewalttätiger Männer, mit denen seine Mutter im Laufe der Jahre liiert war. Und sieht sie an einem Wintertag auf dem Balkon stehen, die Arme in die Luft gereckt, in einer Hand eine schwarz umrandete Karte, die im Wind flattert. Als im Herbst darauf eine weitere Todesnachricht eintrifft, bestellt Ma Wein und chinesisches Essen. „Das war das einzige Mal, dass Ma und ich uns so richtig zusammen besoffen haben.“ Luis ist damals zwölf, und an diesem Abend entsteht der Running Gag der beiden: „Morgen geh ich zum Jugendamt!“ In der Erzählgegenwart schläft Ma mit Luis’ bestem Freund Milan, der schon 20 ist, Chef der Clique, Organisator der Fickwetten. Mit einem einzigen „Ich bleibe hier“ – in der Wohnung, bei der Mutter, während Luis mit den anderen Jungs saufen geht – verschwindet Milan in die Welt der Erwachsenen und dringt zugleich in Luis’ Kindheit ein. Durchs Schlüsselloch sieht Luis nichts, und es hilft nicht, sich ein letztes Mal an der Mutter festzuklammern. Luis versucht, seine Haut so dünn zu schaben, dass er sein Inneres sehen kann.

Verena Güntner spricht von ihren Figuren wie von Leuten, die sie gut kennt. Beim Schreiben wusste sie, dass sie sich auf sie verlassen kann. „Anders als Luis hatte ich keinen Plan“, sagt Verena Güntner, „ich habe einfach geschrieben. Ich mag das, wenn da nichts steht, ich habe keine Angst vor dem leeren Blatt. Die Geschichte hat sich fast von selbst erzählt. Ich war oft erstaunt und hab mich an Luis erfreut.“ Die einzige Schwierigkeit bestand zuerst im Unterschied zwischen Luis’ Sprache und ihrer eigenen. „Ich musste aufpassen, dass ich mich nicht in schönen Bildern verliere, die die Figur, die spricht, nicht verwenden würde.“ Dasselbe gilt für den Plot: „Immer, wenn ich versucht habe, von außen etwas in die Geschichte rein zu drücken, habe ich es irgendwann wieder rausgenommen.“

„Es bringen“ erzählt einen dieser Sommer, von denen es in einem Leben nur zwei oder drei gibt und in denen man lebendiger ist, als man je wieder sein wird, weil alles sich verändert. Das ist süß und schmerzhaft und schwer und ungeheuer wirklich.

Verena Güntner: Es bringen. Kiepenheuer & Witsch,  256 Seiten, 18,99 Euro, als E-Book erhältlich

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