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Fotos: Alva Gehrmann

Zu Besuch in dem norwegischen Bücherdorf, das auch Jostein Gaarder inspiriert.

Bücherfjord

Margaret Atwood, Stephen King und Botho Strauß warten schon sehnsüchtig am Steg auf ihre Leser. Das Dorf Fjærland liegt in einem der tiefsten Fjorde Norwegens; an diesem Tag im Mai spiegeln sich die grünbewachsenen Hügel und schneebedeckten Bergwipfel im klaren Meer. Dicht an dicht stehen die internationalen Literaturstars jetzt an der Fähranlegestelle gemeinsam mit ihren Kollegen Siegfried Lenz, Gabriel García Márquez und Franz Kafka – leider nicht persönlich, aber dafür in dem grün lackierten Bücherregal unter freiem Himmel.

Fjærland ist ein verwunschener Ort mit gerade mal 278 Einwohnern und nur einer Straße entlang des Fjordes. Auf rund vier Kilometern bieten die Norweger schätzungsweise 200 000 Bücher zum Verkauf an. Es sind Second-Hand-Werke aus aller Welt. Bücher für alle Fälle: von profaner Sommerlektüre über Liebesschnulzen, Krimis und ökonomischer Fachliteratur bis hin zu teilweise vergriffenen Klassikern. In dem offenen Regal „Sjøkanten“ (Norwegisch für „Strand“) warten wie für uns vorbereitet deutsche Ausgaben von Kings „Friedhof der Kuscheltiere“ und Kafkas „Die Verwandlung“. Zehn Kronen, also rund 1,10 Euro, kostet ein Buch. Das Geld wirft man in den Schlitz einer grünen Box, die am Nachbarregal hängt. In der Einsamkeit Norwegens vertrauen sie darauf, dass die Besucher ehrlich sind.

Seit 20 Jahren ist Fjærland eine offizielle Book Town, ein Bücherdorf. Traditionell leben die Menschen an den fruchtbaren Ausläufern des größten Festlandgletschers Jostedalsbreen von der Landwirtschaft. In den Achtzigerjahren wurde ein kilometerlanger Tunnel in den Berg gehauen, also stellte die Gemeinde die tägliche Autofähre ein. Und so mancher Fjordbewohner zog lieber in belebtere Städte. Als die Menschen gingen, bevölkerten die Bücher den Ort. „Wir bekommen sie geschenkt. Zum Beispiel von Norwegern, die umziehen, oder von Touristen auf der Durchreise“, sagt Marianne Supphellen. „Wir nehmen alle Bücher an, sofern sie in gutem Zustand sind und nicht müffeln.“ Die Norwegerin ist Leiterin des Bücherdorf-Projektes und eine der 278 Einwohner. Die Familie ihres Mannes lebt seit vielen Generationen in Fjærland, was sich auch im Nachnamen zeigt. Supphelle heißt ebenfalls einer der Gletscherausläufer.

An diesem sonnigen Tag führt die Norwegerin uns durch ihren Ort. Neben öffentlichen Bücherregalen, wovon eines an der einzigen Bushaltestelle steht, nutzen die Organisatoren ansonsten vor allem ungenutzte Gebäude, um die Weltliteratur zu präsentieren. Sei es in der ehemaligen Bank, einer ockerfarbenen Holzscheune für Kühe oder dem einstigen Kaufmannsladen. „Jeder Buchladen ist einem Genre gewidmet“, sagt Supphellen, als sie das Café betritt. In „Kaffistofa“ gibt es eine ganz spezielle Mischung: Hier stehen neben den Kategorien „Kochbücher“ und „Humor“ auch erotische Werke. Sicherlich würden die Vorfahren von Inhaberin Barbara Vangsnes bei der heißen Literatur verschämt kichern, ihre heutigen Gäste genießen gelassen die frisch gebackenen Waffeln mit Kaffee.  

Zwei Häuser weiter ist das Straumsvågs antikvariat beheimatet, in dem Jan Peter Strong hinter Bücherstapeln zu verschwinden droht. Selbst oberhalb des Türrahmens thronen in einem Regal Berichte über den Forschungsreisenden Thor Heyerdahl. Der Norweger wurde 1947 berühmt, als er mit dem Floß Kon-Tiki von Peru aus über den Pazifik segelte. Die Liebe zum Meer wurde Buchhändler Strong in die Wiege gelegt. Sein Vater war ein neuseeländischer Seemann, der auf einer Tour entlang der norwegischen Fjorde die Liebe zum Land entdeckte. Strong streicht durch seinen langen Bart, er zeigt uns das älteste Buch des Antiquariats. „Es ist eine Kirchenhistorie aus dem Jahr 1742 vom dänischen Autor Erik Pontoppidan“, sagt er und klappt den Band vorsichtig auf. Strong lebt ebenfalls in Fjærland und betreibt um die Ecke einen eigenen Laden mit Comicbüchern. Er genießt die Ruhe des Ortes.

Unweit davon auf einem kleinen Hang residiert das Hotel Mundal, es wurde vor 125 Jahren gegründet und war lange im Familienbesitz. Wer es betritt, taucht ins 19. Jahrhundert ein. Stilvolle Möbel, Kronleuchter, Schaukelstühle und ein Kamin finden sich darin ebenso wie eine kleine Bibliothek. Die Bücher sind jedoch nicht nach Themen, sondern nach Farben sortiert.

Der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder, Autor von „Sofies Welt“, hat eine besondere Beziehung zum Hause Mundal. Als Teenager soll er im Sommer stets die Schweine gehütet haben. Noch heute kommt Gaarder regelmäßig ins Hotel, wo er sein eigenes Zimmer mit Schreibtisch hat. Gebrauchte Exemplare seiner Werke gibt es in dem Bücherdorf natürlich ebenfalls. Zum Beispiel im Haus „Tusund og ei natt“ an der Fähranlegestelle, wo die Kategorien Philosophie, Historie, Botanik und Krimi abgedeckt werden. Nebendran im ehemaligen Warteraum findet man Literatur rund um das Meer. „Kauf mich, lies mich“, rufen die Bücher uns zu. Zum Glück sind viele auf Norwegisch und somit können wir der Versuchung leichter widerstehen.

Wir spazieren mit Marianne Supphellen zurück zum Ortsanfang. Sie geht ins Büro und wir treffen Bård Huseby, der sich mit dem Hotel Fjærland Fjordstove einen Traum erfüllte. Der Norweger kommt ursprünglich aus einer anderen Region des langgezogenen Landes. „Ich wollte schon immer ein weißes Holzhaus am Fjord besitzen“, erzählt er. „Hier fand ich meinen Platz.“ Wir sitzen nun im Aufenthaltsraum, der mit orangefarbenen Sitzgarnituren im Stile der Siebzigerjahre und einem Plattenspieler gemütlich eingerichtet ist. Auf der Fensterbank stehen ausgewählte Bücher, darunter ein Krimi von Jo Nesbø.Die breiten Glasfronten lassen den freien Blick auf den schmalen Fjord und den Gletscher zu. Das Hotel serviert exzellente lokale Küche, die Kräuter züchtet Huseby im eigenen Beet und das Bier braut er selbst. Die literarische Verschnaufpause am frühen Abend tut gut. Später sitzen wir auf der Terrasse. In der Ferne krachen die letzten Schneestücke in den Fjord, ansonsten ist es still. Im Hotelzimmer warten natürlich: Bücher. Das Bett wird umarmt von Hunderten literarischen Werken. Am nächsten Morgen sind wir zum Glück nicht wie Kafkas Protagonist Gregor Samsa in ein ungeheueres Ungeziefer verwandelt, sondern bleiben einfach nur menschliche Bücherliebhaber.

Von Alva Gehrmann in BÜCHERmagazin 04/2016 

Bücherdorf Fjærland
Das Bücherdorf ist vom 1. Mai bis 16. September täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Rund um Mittsommer gibt es jedes Jahr ein Buchfestival
(24. bis 26. Juni), bei dem die Läden bis Mitternacht offen bleiben. Auf einer Bühne finden zudem Konzerte und Lesungen statt. Selbst wer es nicht nach Fjærland schafft, kann über 10 000 Titel im Webshop des Bücherdorfes finden. Mehr Infos gibt es unter: bokbyen.no; fjaerlandhotell.no

 Bücherdörfer weltweit
Die Welt der Bücher von Paju in Korea bis Sysmä in Finnland – weltweit gibt es 17 in einem Netzwerk zusammengeschlossene Book Towns,außerdem noch einmal fast doppelt soviele Bücherdörfer jenseits dieses Netzwerkes. Pionier dieser Bewegung war das walisische Bücherdorf Hay-on-Wye, 1965. Allen Orten, die unter diesem Titel firmieren, ist gemein, dass sie wesentlich mehr Bücher als Menschen beheimaten, sie liegen meist in ländlichen Regionen und sind so ein traumhaftes Urlaubsziel für Buchliebhaber. In Deutschland gibt es ebenfalls Bücherdörfer: Wünsdorf in Brandenburg, Mühlbeck/Friedersdorf in Sachsen-Anhalt und Müllenbach in Nordrhein-Westfalen. Alle zwei Jahre wird vom Netzwerk das International Book Town Festival in einer anderen Stadt weltweit ausgerichtet. Mehr Infos gibt es unter: booktown.net

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