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Reportage: Elisabeth Dietz (ed) | Fotos: Karla Paul

Social Reading

Im Universum der Worte

Du liest nicht allein. Wie Social Reading Leser, Autoren und Verlage miteinander verbindet.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Lesen eine eher stille Tätigkeit. Der Leser sitzt allein über seinem Buch, einseitige Kommunikation findet zunächst mit dessen Autor statt, naturgemäß meist stark zeitversetzt. Das Internet bricht diese Isolation zusehends auf. In Foren wie literatina.de oder literaturforum.de und in unzähligen Blogs werden Bücher aller Genres diskutiert. Während die Leser-Rezensionen auf Amazon gelegentlich ins unfreiwillig Komische abgleiten, vermitteln Plattformen wie bloggdeinbuch.de und vorablesen.de Rezensionsexemplare gezielt an Blogger und engagierte Freizeit-Rezensenten. Auf Twitter feiert der Aphorismus eine Renaissance. Epische und besonders populäre Werke, etwa Stephenie Meyers „Bis(s)“-Bücher oder George R. R. Martins Reihe „Das Lied von Eis und Feuer“, werden von ihren Lesern in eigenen Wikis ausführlich katalogisiert, illustriert und analysiert. Joanne K. Rowling gründete 2011 mit pottermore.com ein Portal, über das sie die Fan-Aktivität in geordnete Bahnen zu lenken versucht und ihre Leser immer wieder mit Hintergrundinformationen zu Charakteren versorgt. Auf Fan-Fiction-Portalen spinnen jene, die sich nach der letzten Seite verlassen fühlen, ihre Geschichten weiter. Dadurch, dass wir einen immer größeren Teil unseres Alltags in einer Parallelwelt verbringen, die fast vollständig aus Texten besteht, öffnen sich die Grenzen zwischen Literatur und Realität, zwischen Autoren und Lesern.

Eine einzige Gemeinsamkeit: das Buch

„Social Reading“ fügt diesem Geflecht eine Dimension hinzu: die der Gleichzeitigkeit. Der Begriff Social Reading bezeichnet zunächst ganz allgemein die Kommunikation über Bücher, weltweit, offline oder online. „Egal, ob jemand auf unserer Seite etwas über ein Buch schreibt, über seinen Reader einen Kommentar beisteuert oder sich gerade auf einer Buchhandelsseite informiert – die sind alle miteinander verbunden, obwohl sie vielleicht nur eine einzige Gemeinsamkeit haben: das Buch!“ erklärt Karla Paul, Redaktionsleiterin und Social-Media-Managerin der Online-Community LovelyBooks. Über ein Widget, das LovelyBooks anbietet, ist es möglich, ein E-Book um einen Social Reading Stream zu erweitern. Das bedeutet, dass jeder, der das E-Book auf einem internetfähigen Gerät liest, in Echtzeit Einblick in die Kommentare und Fragen anderer Leser erhält. Oft ist auch der Autor involviert. „Das erste Buch, mit dem wir das ausprobiert haben, war Sascha Lobos ,Strohfeuer‘. Ich kannte den Autor, also hab’ ich versuchsweise vom Reader aus eine Frage gestellt. Zwei Seiten später war die Antwort da. Dass ich tatsächlich mit dem Autor und den anderen Lesern über das Buch kommunizieren kann, während ich es lese, das fasziniert mich auch heute noch, auch privat.“ Der Stream lässt sich auch in Verlags- oder Autorenhomepages einbinden. „Besonders gut ist das bei Büchern, die Diskussionsstoff bieten, über die man sich streiten kann, die polarisieren. Oder Sachbücher. Da hat man viele Fragen an den Autor.“ Karla Paul war schon LovelyBooks-Mitglied, als LovelyBooks noch ein Forum war. Wenn sie über die User spricht, die sie betreut, sagt sie: wir.

LovelyBooks ist mit rund 57.000 registrierten Mitgliedern die größte deutschsprachige Plattform ihrer Art. Wer sich als Leser anmeldet, kann zunächst ein persönliches Profil erstellen, Auskunft über literarische Vorlieben geben, den Marcel-Proust-Fragebogen ausfüllen, Bilder hochladen, Bücher in ein virtuelles Bücherregal stellen oder all das auch sein lassen. Ähnlich wie bei Facebook hat jedes Mitglied verschiedene Möglichkeiten, mit anderen Kontakt aufzunehmen: über Statusmeldungen, die eigene Pinnwand, Freundschaftsangebote oder private Nachrichten. Es ist möglich, Gruppen zu gründen oder „Wanderbücher“ zu verschicken. Ungefähr alle zwei Wochen überträgt LovelyBooks eine Lesung im Livestream. Über Twitter oder Facebook können die User den Autoren Fragen stellen.

So viel mehr als Bestseller

Das beliebteste Genre hier ist eindeutig die Fantasy, dicht gefolgt von der Kriminalliteratur. Das seit Entstehung der Plattform bestbewertetste Buch ist „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“. Die meisten der User sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, die allermeisten weiblich. Für Abwechslung sorgt die Redaktion, indem sie die Aufmerksamkeit der Community durch besondere Aktionen etwa auf Debüt-Autoren oder Klassiker lenkt. „Wir wollen keine Seite sein, wo es nur um Bestseller geht.“

Die Rezensionen, die hier entstehen, sind teils unbeholfen oder hemmungslos emotional, teils aber auch analytisch oder entwaffnend ehrlich: „,Der Russe ist einer, der Birken liebt‘“, schreibt eine Rezensentin, „ist ein Buch, das ich leider überhaupt nicht verstanden habe.“ Elf Teammitglieder sind unter anderem für das Community Management zuständig. Unterstützt werden sie von 13 Moderatoren, die aus den aktivsten Usern rekrutiert werden und für ihr Engagement monatlich ein Buchpaket erhalten. Sie sorgen dafür, dass der Ton respektvoll bleibt, verhindern Spam und beobachten das User-Verhalten. „Es gibt sowohl auf Amazon als auch auf anderen Foren manchmal Mitglieder und Autoren, die sich zusammenrotten, um ein Buch besonders schnell hochzupushen oder runterzumachen. Wir sehen das aber relativ schnell und greifen ein. Zum Beispiel, wenn jemand auffällig viele Fake-Accounts erstellt.“ Kontrovers diskutiert werden darf und soll aber durchaus: „Gerade durch eine negative Kritik kann ein Buch noch einmal einen schönen Push bekommen, weil sich die Fans dann angesprochen fühlen, es zu verteidigen.“

Jeder, der ein Buch in einem Verlag veröffentlicht hat, kann sich als Autor anmelden. „Bücher, die in Druckkostenzuschussverlagen erschienen sind, zählen nicht“, erklärt Karla Paul, „sonst würden wir von Möchtegern-Autoren überrannt. Aber E-Book-Verlage sind okay. Wichtig ist, dass das Buch durch ein Lektorat gegangen und von einem Verlag sinnvoll geprüft worden ist, ohne dass dieser das Risiko auf den Autor ablädt.“ Derzeit sind rund 1800 Autoren registriert, unter ihnen etwa Olga Grjasnowa. Der Autor bekommt ein Autorenprofil, das einer Facebook-Fanseite ähnelt. „Und dann kann er da wie wild Sachen posten, Gewinnspiele machen, Termine eintragen und Leserunden starten.“ Bei einer Leserunde stellt der Verlag Rezensionsexemplare zur Verfügung, um die sich interessierte Leser innerhalb einer Woche bewerben können. Diejenigen, die der Autor auswählt, können zwei bis sechs Wochen lang mit ihm oder ihr über das Buch diskutieren, Fragen stellen, Meinungen äußern.

Das unmittelbare Echo des Publikums

Die Sozialen Medien werden für Autoren immer wichtiger. „Manchmal ein paar Minuten am Tag, manchmal auch eine bis zwei Stunden“ verwendet Fantastik-Autor Kai Meyer auf die Kommunikation mit Lesern. So lernt er sein Publikum besser kennen. „In den Neunzigern bekam ich zwei Leserbriefe pro Jahr. Per Post, über den Verlag. Eigentlich wusste ich nie: Für wen schreibe ich eigentlich? Wer liest meine Bücher und aus welchen Gründen?“ „Das Spannende ist ja, dass das virtuelle Sprechen über Bücher keine Einbahnstraße ist“, meint Stephan M. Rother, dessen jüngstes Buch „Ich bin der Herr deiner Angst“ im Frühling erschienen ist. Social Reading erinnert ihn an seine Zeit als Kabarettist. „Auf der Bühne bekommt man sofort eine Rückmeldung, wie man beim Publikum ankommt. Im Social Reading fühlt sich das teilweise ganz ähnlich an, mit dem Unterschied, dass sogar noch zusätzliches Publikum live einsteigen kann.“ Erfreut und verwundert beobachtet er, „wie Figuren und Ideen lebendig werden“ oder wenn in einer Leserunde „plötzlich die Ängste der Leser Thema werden.“

Eine Leserunde, die der Autor selbst betreut, ist kostenlos. Verlage können die Leistungen von LovelyBooks jedoch auch buchen: Eine Leserunde mit zusätzlicher Werbung gibt es schon ab 500 Euro, ein Komplettpaket inklusive Betreuung der Nutzer und Marketing-Aktionen auch über andere Soziale Medien kostet 3500 Euro. Vielleser, so eine Studie, empfehlen pro Monat durchschnittlich 2,8 Bücher an 3,5 Personen weiter. Viele der LovelyBooks-Mitglieder führen zudem Literatur-Blogs. Weil in jenem Paralleluniversum, das fast vollständig aus Text besteht, Verbindungen so einfach entstehen, sind Leser als Multiplikatoren noch wichtiger geworden.

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