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Interview: Katharina Granzin (kgr) | Fotos: Katharina Granzin

Julia Franck

Die Verlassenen

Wieder macht Julia Franck ein tragisches Ereignis ihrer Familien­geschichte zu Literatur. Ihr neuer Roman spielt in einem Ost-Berliner Vorort, in dessen scheinbare Idylle die gesellschaftlichen Verwerfungen der frühen sechziger Jahre mit voller Wucht einbrechen. Ein BÜCHER-Gespräch über Wahrhaftigkeit in der Literatur und den Tod als Ausweg.

In ihrem preisgekrönten Roman „Die Mittagsfrau“ hat Julia Franck schon einmal ein traumatisches Ereignis aus ihrer Familiengeschichte verarbeitet: Ihr Vater wurde als achtjähriges Kind von seiner Mutter verlassen. Auch Francks neuer Roman „Rücken an Rücken“, der um die Zeit des Mauerbaus spielt, hat einen realen Hintergrund. Er schildert die Jugend zweier Geschwister, deren Mutter mit dem Aufbau des Sozialismus und ihrer Arbeit als Bildhauerin zu beschäftigt ist, um ihre Kinder wahrzunehmen. Thomas und Ella sind daher einander selbst die größte Stütze, können sich jedoch vor den großen Verletzungen, die ihnen das Leben zufügt, nicht gegenseitig schützen.

Eine zentrale Rolle im Roman spielen die Gedichte des Jungen Thomas. Dafür verwendete Julia Franck Gedichte, die der Bruder ihrer Mutter schrieb, bevor er sich im Alter von achtzehn Jahren das Leben nahm. Reales Vorbild für die Bildhauerin Käthe war Julia Francks Großmutter mütterlicherseits. Auch der Handlungsort ist authentisch, der Berliner Vorort Rahnsdorf, in dem die Großmutter der Autorin bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren lebte. Die ländliche Umgebung am Berliner Müggelsee wird im Roman umfassend und detailgetreu beschrieben und übernimmt, oszillierend zwischen stiller Waldidylle und sumpfigem Seeufer, die Funktion einer todessehnsüchtigen Seelenlandschaft.

Mutterschaft beziehungsweise deren Abwesenheit ist ein zentrales Thema in Ihren beiden letzten Büchern. Sind Sie durch Ihre eigene Situation als Mutter für dieses Thema sensibel geworden?

Für meinen neuen Roman ist eher das Verhältnis der Geschwister untereinander zentral. Natürlich spielt die Mutter eine Rolle, aber es ist ein anderer Charakter als in der „Mittagsfrau“. Die Käthe hier nimmt die Kinder gar nicht als zu beschützende Wesen wahr. Sie sollen funktionieren und in ihre Ideologie von Gesellschaft passen.

Es gibt diese allererste Szene, in der die Kinder für die Mutter putzen und kochen – und Käthe zunächst gar nicht bemerkt und dann auch noch ablehnt, was sie getan haben. Am Anfang steht doch diese totale Gleichgültigkeit.

Sie haben ja keine andere Mutter. Es ist wie bei allen Kindern: Das Modell, das in Erscheinung tritt, versteht man unter Mutter. Einen anderen Entwurf von Mütterlichkeit gibt es in ihrem Leben nicht. Sie bauen sich eine eigene Welt, die sie in gewisser Weise auch freier macht als andere Kinder. Sie erwarten gar keinen mütterlichen Schutz.

Was war Ihr Anfangsbild, als Sie begonnen haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Es spielen natürlich immer eigene Erfahrungen eine Rolle. Erfahrungen, die vielleicht auch begründet sind in einer ähnlichen Familienkonstellation, aber auch in der Erschöpfung, der Ohnmacht, die Thomas im Roman erlebt. Dieses Verschließen einer Welt in der Zeit der Jugend, diese Vorstellung zu verschwinden, das habe ich selbst erlebt. Ich habe mich in dem Alter unglaublich viel mit der Möglichkeit des Verschwindens beschäftigt. Selbstmord klingt sehr martialisch, Freitod ideologisch überhöht; für mich wäre das leise Verschwinden das Schönste gewesen. Aber das ist sehr schwer. Thomas ist klar, dass er mit jedem Tag, den er lebt, auch eine größere Schuld  auf sich lädt, eine Schuld am Koalieren, am Mitwissen in Bezug auf das, was seiner Schwester geschieht, und was in ihm ja noch viel stärker geschieht als in ihr. 

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