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Fotos: Viola Schütz

Streetview Literatur

Der fiktive Psychopath in der echten U-Bahn

Die Spezialität von Marion Schwehr ist das Verwischen von Grenzen. Von Haus aus Literaturwissenschaftlerin, hat sie als Zukunftsforscherin und Strategieberaterin gearbeitet. Sie hat die Textplattform euryclia gegründet. Und sie betreibt eine Website, über die man fiktiven Figuren durch reale Straßen folgt.

Wo waren Sie, als Sie die Idee zu Streetview Literatur hatten?

Ehrlich gesagt: zu Hause! Ich habe mir überlegt, dass die Digitalisierung, die in der Buchbranche eher kritisch diskutiert wird, eigentlich ganz neue Möglichkeiten bietet, mit Literatur zu spielen. Ich wollte ein Experimentierfeld aufmachen.

Inwiefern geht Streetview Literatur über das herkömmliche Ebook hinaus?

Gewöhnliche Ebooks sind digitale Print-Bücher. Ich möchte die Linearität der Texte aufbrechen, Verknüpfungen schaffen. Sobald er nicht mehr gezwungen ist, den Text von ganz oben bis ganz unten durchzulesen, wird der Leser zum konstitutiven Element. Dadurch liest kaum jemand den gleichen Text wie ein anderer.

Sie organisieren auch literarische Spaziergänge. Wie darf man sich einen solchen vorstellen?

Eine Gruppe von Zuhörern sammelt sich. Ein Autor fängt an zu lesen. Man geht die Strecke nach, die auch der Protagonist seiner Geschichte zurücklegt. An den Straßenkreuzungen treten auf einmal weitere Autoren aus der Gruppe heraus, Leute, von denen man vorher dachte, sie sind normale Zuhörer. Die fangen auch an zu lesen und gehen ihre Strecken. Die Zuhörer sind von diesem Rollenwechsel erst einmal fürchterlich irritiert. Und natürlich davon, dass sie sich jetzt entscheiden müssen, mit wem sie weitergehen. Die Strecke ist aber so konstruiert, dass man sich woanders wieder trifft und dann neu entscheiden muss.

  • Marion Schwehr
Ist es nicht schwierig für die Autoren, eventuell auch die Ablehnung der Zuhörer so direkt  mitzuerleben?

Ich würde auf diese Spaziergänge nicht jeden Autor mitnehmen. Das müssen schon Leute sein, die selbstbewusst genug sind, um auch schlechtes Feedback wegzustecken.

Ist das Verhältnis zwischen Autor und Publikum ein anderes als bei einer „gewöhnlichen“ Lesung?

Die Leute vereinnahmen ihren Autor sehr stark. Das hat etwas sehr Exklusives, Intimes. Es ist, als würde der Autor die Leser mit seiner Figur bekannt machen. Vielleicht haben sie deshalb das Gefühl, den Autor auch schon ganz gut zu kennen.

Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen.

Das ist ein ganz interessanter Effekt. Einmal, als wir in einem Café saßen, in dem vorher noch die literarische Figur gesessen haben musste, meinte jemand: „Der Stuhl ist noch warm. Boah, der war eben noch hier. Jetzt haben wir ihn knapp verpasst.“ Die Trennung virtuell/real oder, in unserem Falle, fiktiv/real, die ist obsolet.

Das gilt auch für andere Lebensbereiche.

Zum Beispiel Facebook! Wer da drin ist real, wer ist eher schon eine erfundene Persönlichkeit?

Masken trugen die Menschen im Umgang miteinander aber schon vor der Erfindung des Web 2.0.

Das beste Beispiel: Wenn man verliebt ist, will man sich dem geliebten Menschen gegenüber besonders positiv darstellen. Und dann wird eine Person konstruiert, die es im realen Leben nie gegeben hat. Ich glaube, es gibt ganz viele Situationen, in denen die Frage „Wie ist es denn jetzt wirklich?“ gar nicht beantwortet werden kann, weil die Frage falsch ist. Bei Streetview stöbert man Leuten hinterher, die es tatsächlich geben könnte, aber nicht gibt. Oder vielleicht doch … Das finde ich spannend.

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