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Fotos: Gershon Molad

Botschaft aus Babel

Die entautomatisierte Sprache

Anne Birkenhauer hat eine Vielfalt von Genres vom Hebräischen ins Deutsche übersetzt: Lyrik, Romane, junge Literatur. Doch im Alltag spricht sie nicht deutsch: Sie lebt in Jerusalem.  

Ein Interview aus BÜCHERmagazin 6/2015 von Ina Pfitzner 
 
Ich rufe von unterwegs an: Polizeieinsatz bei der S-Bahn, ich verspäte mich. Als ich ankomme, hat Anne Birkenhauer schon im Fernsehen nachgeschaut, es ist kein Terroranschlag. Dann fällt ihr ein: Sie ist gar nicht in Jerusalem, sie ist in Berlin. 
 
Fehlt beim Übersetzen aus dem Hebräischen nicht immer eine Dimension?
Das Hebräische ist einfach völlig anders. Wenn man die Sprache lernt, hat man überhaupt kein Netz, in das die Wörter hineinfallen. Es schwingen immer 3000 Jahre hebräische Sprache, Bibelhebräisch, mit, sodass man Texte, die vor 2500 Jahren niedergeschrieben wurden, heute noch verstehen kann, und die unterschiedlichen Sprachschichten seitdem. Als halbwegs gebildeter Hebräischleser steht einem dieser ganze Sprachschatz zur Verfügung, und das wirkt sich auch auf die Lesekultur aus.Der strukturelle Unterschied ist beim Lyrikübersetzen besonders kritisch. Man kann aus einer Wurzel 25 oder mehr Wörter machen und hat dadurch ganz andere Möglichkeiten für Wortspiele. Aber jede Sprache hat ihre Möglichkeiten. Wenn Menschen in diesen Sprachen leben und wenn von menschlichen Erfahrungen die Rede ist, kann man alles übersetzen. Man muss eben tüfteln. 
 
Wie frischen Sie Ihre Deutsch-Zellen auf?
Das ist ein Problem. Ich inspiriere mich durch Lesen oder über 3sat, so bleibe ich auch inhaltlich ein bisschen dran. Das Deutsche ist jetzt für mich entautomatisiert, und das merke ich auf eine sehr schöne Art und Weise. Das Hebräische findet bei mir ja primär über das Gehör statt, weil ich dort lebe, und das Deutsche primär in den Fingern, am Bildschirm. Meine Vertipper werden immer häufiger, da entstehen interessante Wortspiele, auf die ich früher nie gekommen wäre. 
 
Ist Deutsch immer die Sprache der Gegenseite, die Tätersprache?
Sobald sich Texte oder die Figuren in der Zeit bewegen oder in der 2. oder 3. Generation, schwingt das enorm nach, bis heute. Gegensprache ist ein ganz gutes Bild: Es ist nicht nur die Kultur, die die Juden vernichten wollte, es ist die Kultur, die seitdem gegenübersteht und als Gegenüber abgegrenzt ist. Das Deutsche hat oft auch etwas Intimes für die Leute, die ihre Kindheit in dieser Sprache verbracht haben. In einem Gedicht von Dan Pagis konnte ich zeigen, dass der Urvers, aus dem sich wahrscheinlich das ganze Gedicht auf He­bräisch entwickelt hat, ein Klangspiel auf Deutsch ist, Urmuschel und Ohr.
 
Wie ist die Arbeit mit den Studierenden?
Es macht riesigen Spaß. Die Studenten sind klug und engagiert. Wir haben Literaturwissenschaftler, einige Judaisten und viele andere Sprachen, sowohl Muttersprachler als auch Zweit- und Drittsprachen, ein Riesenspektrum an Perspektiven. Die einzige Sprache, in der ich literarisch sensibel bin, ist das Hebräische. D. h., ich wollte mit Beispielen aus dem Hebräischen arbeiten, im Grunde jüdisches Sprachdenken vermitteln. Nächste Woche übersetzen wir ein Gedicht von Chaim Nachman Bialik, dem hebräischen Nationaldichter. Sie bekommen von mir eine ganz wörtliche Übersetzung, und dann sollen sie das in eine eigene Form bringen. Das Ziel ist nicht, dass sie alle Übersetzer werden, aber sie sollen sich die Fragen stellen, die sich ein Übersetzer stellt, damit sie merken, was man alles gegenei­nander abwägen muss. 

Können Sie sich Ihre Autoren aussuchen?
Ich bekomme zum Glück viele Angebote und kann auch Nein sagen. In den ersten Jahren habe ich nur hochliterarische Autoren übersetzt. Jetzt mache ich auch junge, sehr spannende Autoren, die sich mit den verschiedenen jüdischen Ethnien innerhalb der israelischen Gesellschaft beschäftigen, mit Slang und Einwanderersprache. Da habe ich eine ganz neue Welt entdeckt. 
 
Schreiben Sie immer Nachworte?
Einige Verlage meinen, deutsche Leser würden nicht gern mit der Nase darauf gestoßen werden, dass es eine Übersetzung ist. Das hat mich erstaunt. Ich schreibe gerne Nachworte, weil ich dem Leser einen kleinen Einblick geben will, wie ich bestimmte Sachen gelöst habe. Gerade bei sehr poetischen Texten lege ich gern ein bisschen Rechenschaft ab. Bei Gedichten verzichte ich oft auf Reime, weil die auf Deutsch meist etwas erzwungen sind; man muss den Inhalt sehr beschneiden, um das richtige Reimwort zu finden. Ein Gedicht über die Shoah, das sich hinten reimt, das geht auf Deutsch nicht.  
 
Ina Pfitzner ist Übersetzerin und hat in Louisiana gelebt und promoviert. Sie übersetzt Sachbücher, Memoiren, Comics sowie für den National Geographic.
 
Anne Birkenhauer, geb. 1961, ging 1980 im Rahmen der Aktion Sühnezeichen nach Israel und studierte anschließend Germanistik und Judaistik. Im Wintersemester 2014/2015 war sie Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin. Kürzlich erhielt sie den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung 2015. 
 

Übersetzt von Anne Birkenhauer:
 
Dan Pagis: An beiden Ufern der Zeit, Ausgewählte Gedichte und Prosa, hebräisch-deutsch, Straelener Manuskripte (2003), 128 Seiten, 23 Euro
 
Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens, rororo (2006), 208 Seiten, 8,99 Euro
 
David Grossman: Eine Frau flieht vor einer Nachricht, Fischer TB (2011), 736 Seiten, 10,99 Euro
 

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