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Botschaften aus Babel: Ina Pfitzner (ipf)

Die Sprache(n) Europas

Die Europäische Union basiert auf dem Prinzip des Übersetzens und des Dolmetschens. Doch findet sie eine gemeinsame Sprache?

Übersetzen, das Überwinden von Sprachbarrieren, dachte ich immer, sei zutiefst europäisch, die grundlegende europäische Praxis. Schließlich haben uns Buchübersetzungen gemeinsam und gegenseitig geprägt, sie haben Literaturströmungen angestoßen und uns politisch befriedet und einander näher gebracht. So ist es nur logisch, dass man auch in der Europäischen Union, mit derzeit 28 Mitgliedstaaten, übersetzt und dolmetscht, was das Zeug hält. Das hat viel Gutes. Unabhängig von ihrer Größe und Wirtschaftsmacht werden alle Länder gleichbehandelt, „kleine“ und Minderheitensprachen gestärkt (einige große Regionalsprachen wie Katalanisch und Romanes allerdings nicht). Und: Jeder hat das Recht, Anfragen in der offiziellen Sprache seines Landes an die EU zu richten und in dieser Sprache Antwort zu erhalten.

Durch die Erweiterungen von 2004, 2007 und zuletzt 2013 (Kroatien) hat sich die Zahl der Amtssprachen von 11 auf 24 erhöht, das entspricht 552 möglichen Sprachkombinationen. Deshalb wird schon lange nicht mehr alles in alle Sprachen übersetzt, und selbst beim Dolmetschen arbeitet man verstärkt mit Relaissprachen (daher der Ausspruch: „Die Finnen lachen zuletzt“). Rechtsvorschriften und Strategiepapiere von besonderer öffentlicher Bedeutung werden nach wie vor in allen Amtssprachen veröffentlicht. Jährlich werden etwa 13 000 Dokumente übersetzt, rund eine Million Seiten, ein Papierturm von etwa 100 Meter Höhe.

Das bedeutet, dass vor der Erweiterung von 2004 der gesamte „gemeinschaftliche Besitzstand“, d. h. 80 000 Seiten EU-Recht, in die Sprachen der zehn Kandidatenstaaten übersetzt und unter strenger Überwachung umgesetzt wurde. Statt mit hehren Idealen und Werten kam die EU also vor allem als riesiger bürokratischer und technokratischer Apparat auf diese Länder zu. Nicht nur Politiker, Verwaltungsangestellte und Lobbyisten gestalten somit die EU, sondern auch ein stilles Heer von Dolmetschern und Übersetzern.

Obwohl die Europäische Union auf dem Prinzip des Übersetzens beruht, wird dieses geleugnet. Es ist nämlich offizielle Politik, dass alle übersetzten Dokumente als Originale gelten und als solche rechtskräftig sind. Aber wenn alle Übersetzungen Originale sind, was ist dann überhaupt noch Übersetzung? Und was sich zunächst fortschrittlich und egalitär anhört, birgt auch die Gefahr, die Unterschiede zwischen den Sprachen zu nivellieren, sie „einzuhegen“. Die Übersetzungen, so ein Kritiker, bringen die EU zum Schweigen, erlegen ihr ein „erzwungenes historisches Vergessen“ auf. Verständigung wird nur möglich, wenn alle Eigenheiten geschleift und standardisiert werden, wie beim Käse, bei den Toilettenschüsseln. So hat sich ein eigenes Idiom herausgebildet – Eurosprech, ein direktes Produkt der Originale, die eigentlich Übersetzungen sind (oder umgekehrt), und der durch Nichtmuttersprachler verfassten Originaltexte.

Dazu passt auch, dass die Europahymne (seit 1972 offizielle Hymne des Europarats, seit 1985 der Europäischen Union) zwar auf Beethovens Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ beruht, aber ohne Text aufgeführt wird, in einer Instrumentalfassung von Herbert von Karajan. Nach offizieller Lesart wurde die Melodie zwar wegen Schillers idealistischer Vision ausgewählt, aber eben ohne Worte, um keine Sprache zu bevorzugen. Die Hymne repräsentiere ganz Europa und bringe nur in der „universellen Sprache der Musik… die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck“. Das mit der Freude und der Brüderlichkeit schwingt also bestenfalls unterschwellig mit, und in Ländern, in denen es keine maßgebliche Übersetzung gibt, gar nicht. So bleibt die Hymne für viele stumm und sie können nur passiv zuhören oder vielleicht noch mitbrummen oder -summen. Aber wäre es nicht schön, wenn jeder Europäer und jede Europäerin in seiner und ihrer Sprache lauthals mitschmettern könnte? Was für eine Hymne könnte das sein? Was für ein Europa könnte das sein?

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