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Verhinderte Bestseller: Stefan Volk (smv)

Eine Heldengeschichte

Ljudmila Ulitzkaja: Daniel Stein

Ein jüdischer Pole, der für die Nazis übersetzte, um Leben zu retten – Oswald Rufeisen könnte den Stoff für eine hollywoodreife Heldengeschichte liefern. Ljudmila Ulitzkaja aber erzählt in „Daniel Stein“ viel mehr als das. Ein literarisches Meisterwerk.

Sie hätte es sich und ihren Lesern auch einfacher machen können. Ljudmila Ulitzkaja hätte sich bloß damit begnügen müssen, das wahre, außerordentlich spannende Leben Oswald Rufeisens zu rekonstruieren; „so wie es wirklich war“. Wahrscheinlich wäre „Daniel Stein“ dann mittlerweile längst verfilmt worden. Zumindest aber wäre der Autorin der Vorwurf erspart geblieben, mit ihrem Roman die Geschichte zu verfälschen. Und an Erzählstoff hätte es ihr trotzdem nicht gemangelt. Rufeisen, ein jüdischer Pole, arbeitete im 2. Weltkrieg unter falscher Identität als Dolmetscher für die Nazis und konnte etlichen Juden das Leben retten, indem er bewusst falsch übersetzte oder vor geplanten SS-Aktionen warnte. So verriet er 1942 die geplante Tötungsaktion gegen das jüdische Ghetto von Mir. Nachdem er schließlich doch verhaftet worden war, gelang ihm die Flucht. Er fand in einem katholischen Kloster Unterschlupf, konvertierte zum Christentum und gründete nach dem Krieg in Israel eine christliche Gemeinde. Aus Oswald Rufeisen wurde der Karmelitermönch Pater Daniel.
Dass Rufeisen auch nach Ulitzkajas Romanveröffentlichung noch weithin unbekannt blieb, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die russische Autorin es sich nun mal nicht leicht machen wollte und statt eines unmittelbaren biografischen Zuganges den Umweg über die Dichtung wählte. „Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit“, schreibt sie in ihrem Vorwort und stellt klar: „Der echte Bruder Daniel, im bürgerlichen Leben Oswald Rufeisen, und meine Romanfigur Daniel Stein sind nicht identisch.“ Statt das Leben Rufeisens Stück für Stück im großen Bogen nachzuerzählen, was ja auch höchst lesenswert hätte werden können, verwebt die begnadete Kurzgeschichtenerzählerin seine Biografie mit derjenigen zahlreicher weiterer realer und fiktiver Personen und entwirft so einen poetischen Flickenteppich, der weit über die persönlichen Erlebnisse Rufeisens, den Ulitzkaja selbst kannte, hinausweist.

Im Mittelpunkt stehen denn auch nicht die spektakulären Kriegserlebnisse „ihres“ Daniel Steins, als vielmehr dessen Vision, in einer Gemeinde nach dem Vorbild der Kirche des Jakobus die Spaltung zwischen jüdischem und christlichem Glauben zu überwinden. Mithilfe von historischen, aber auch fiktiven Gesprächsprotokollen, Aufzeichnungen von Vorträgen, Briefen, Tagebucheinträgen und amtlichen Dokumenten setzt Ulitzkaja das Puzzle einer faszinierenden Lebensgeschichte zusammen. In ihrem vielstimmigen Roman lässt sie darüber hinaus aber noch etliche weitere Schicksale aufscheinen, die das gemeinsame Erbe des Juden- und Christentums, den Nationalsozialismus, den Zionismus und den jüdisch-arabischen Konflikt aus vielfältigen (Erzähl-)Perspektiven beleuchten.

Auch sich selbst erteilt sie in diesem epischen Kaleidoskop das Wort. Gegen Ende ihres wagemutigen Werkes schreibt sie in einem auf „Juni 2006“ datierten Brief: „Die Gemeinde von Daniel Rufeisen ist zerfallen. Die Gemeinde von Daniel Stein, meinem literarischen Helden, teils Erfindung, teils Erinnerung, ist ebenfalls zerfallen. Die Elias-Kirche an der Quelle ist eine Ruine, das Gemeindehaus mit Brettern vernagelt, doch bald wird es sich jemand aneignen – es ist ein sehr schönes Haus mit einem herrlichen Garten. Das Altenheim ist geschlossen. Der Hirte ist fort, die Schafe sind auseinandergelaufen. Die Jakobuskirche, die Jerusalemer Gemeinde von Judenchristen, existiert nach wie vor nicht. Aber das Licht leuchtet dennoch.“ Offenbar ist es das, worum es Ljudmila Ulitzkaja mehr als alles andere geht: das Vermächtnis, die Utopie zu bewahren. Entsprechend behutsam, sorgfältig wählt sie ihre Worte. Mit „Daniel Stein“ gelingt ihr einmal mehr ein Meisterstück des Hineindenkens und Einfühlens in widersprüchliche Charaktere und eine dramatische, aufwühlende Zeit. Ein Jahrhundertroman!

Ljudmila Ulitzkaja: Daniel Stein. Übersetzt von Ganna Braungardt. Hanser, 496 Seiten, 24,90 Euro

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