Jump to Navigation
Verhinderte Bestseller: Stefan Volk (smv)

Ein dickleibiger, unbequemer Schmöker

William Gaddis: Die Fälschung der Welt

Erst verrissen ihn die Kritiker, dann feierten sie ihn. Es half beides nichts. Das Publikum ließ William Gaddis’ Erstling „Die Fälschung der Welt“ links liegen. Schade. Dieser üppige, amüsante, wild wuchernde, sprachgewaltige Zeitroman hätte mehr verdient.

Als „Die Fälschung der Welt“ 1955 unter dem Originaltitel „The Recognitions“ in den USA erschien, lehnten die Kritiker den dickleibigen, unbequemen Schmöker ab; das breite Publikum nahm kaum Notiz. Auch als das monumentale Erstlingswerk kurz vor dem Tod seines mittlerweile vielfach ausgezeichneten Autors 1998 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, schieden sich an ihm die Geister. Ulrich Greiner ließ in der Zeit kaum ein gutes Haar an William Gaddis’ Roman, den er als „wichtigtuerisch, klugscheißerisch“ empfand. Und es half nichts: mochten die Gaddis-Verehrer „Die Fälschung der Welt“ gar auf eine Stufe mit „Moby Dick“ stellen – eine große Leserschaft fand das Buch wieder nicht. Derzeit ist der als großer Wurf angelegte Roman über eine bodenlose auf Lug, Trug und schönem Schein aufgebaute Moderne auf Deutsch nur antiquarisch erhältlich.

An den Kritikern, über die Gaddis in seinem wuchtigen Wälzer so gern und wortreich lästerte, lag es diesmal allerdings nicht. Viele lobten Gaddis‘ Debütroman nachträglich in höchsten Tönen, als sollte der Autor postum noch einmal recht behalten: „Die tun nämlich nichts lieber, als alte Meister zu entdecken.“ Kam diese Wiederentdeckung 1998 zu spät, so wie der Roman 1955 zu früh kam? Hatte er die kurze, steile Erfolgswelle postmoderner Literatur gleich zweimal verpasst? Vielleicht hat Gaddis seine Fälschung am Ende nicht weit genug getrieben, war sein Fehler, dass er selbst sich nicht beteiligen, dass er entlarven wollte. Gut möglich, dass er an diesem gewaltigen Unterfangen schließlich scheitern musste.

In seinem lyrischen, wahnwitzigen und unbändigen Roman warf er dennoch alles in eine Waagschale und brachte so am Ende eine üppig wuchernde Welt zu Papier, in der man sich verlieren, aber auch wunderbar herumstreunen, den Blick amüsiert oder staunend schweifen lassen kann über all die Nebenschauplätze, Randfiguren und sozialen Posen: ein „junger Mann mit Perlmuttbrille“ hält sich an einer Abhandlung mit dem Titel „Demokratie und die Erziehung zur kontrollierten Darmentleerung“ fest, ein verheirateter „Mann mit Bart“ gesteht einem Mädchen, seit seiner Hochzeit habe er „keine andere Frau mehr angesehen“ und fragt es dann, ob sie ihn eigentlich attraktiv fände. Schwul!, kreischt es ein paar Meter weiter: „In seiner Wohnung sind sogar die Kakerlaken schwul.“ Mag sein, dass Gaddis sich am Ende selbst im Weg stand, dass er zu neunmalklug formulierte, zu viel auf einmal hineinpackte in die Erzählung des Priestersohns und Kunstfälschers Wyatt Gwyon, der nicht etwa Originalgemälde kopiert, sondern neue „Originale“ alter Meister erfindet, die dann eben von eingebildeten oder/und korrupten Kritikern „wiederentdeckt“ werden. Aber schließlich ging es Gaddis um mehr als eine scharfsichtige Satire auf die Auswüchse des Kunstbetriebes. „Die Fälschung der Welt“ reicht weit über Plagiate hinaus.

Sie beginnt in Wyatts Kindheit mit der phrasenhaften heuchlerischen Religiosität, mit der ihn seine Tante zum Nachfolger im Pfarrhaus heranziehen will: „Im Gegensatz zu anderen Kindern, denen als Belohnung für ein artig aufgegessenes Tellerchen auf dem Grund desselben ein lustiges Tierbild entgegenblinzelt, lauerte auf Wyatt unter dem meist hastig heruntergewürgten Papp nichts weniger als eine der sieben Todsünden.“ Sie setzt sich fort, wenn Otto, ein Bewunderer Wyatts, seinen gesunden Arm in einer Schlinge trägt, um eine Verletzung zu simulieren, die er sich angeblich bei einer Revolution in Lateinamerika zuzog. Und sie mündet schließlich in all den kleinen und großen Halbwahrheiten und Täuschungen, auf denen wir unser Dasein aufbauen. Am Ende all des Selbstbetrugs steht dann der gefälschte moderne Mensch: „die Kopie einer Kopie einer Kopie eines Originals, das nie existiert hat.“

William Gaddis: Die Fälschung der Welt. Zweitausendeins, 1244 Seiten. Zurzeit nur antiquarisch erhältlich

Themenwelten

Senioren, Greise, Silver Surfer

Senioren, Greise, Silver Surfer

Alte Menschen in der Literatur

Vom Eise befreit

Vom Eise befreit

Frühlingsliteratur

Über das Denken

Philosophie für Kinder

Von Geburt an Philosophen

Wer sind die anderen?

Afrika

Der so genannte dunkle Kontinent

Familiengeschichten

Vater, Mutter, Kind, Krieg

Familiengeschichten

Wirtschaftskrisenwerke

Wirtschaftskrisenwerke

Über Gier und Risiko