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Interview: Claire-Lise Buis (clb) | Fotos: Uwe Tölle

Das Gemüt der Vergangenheit

Die Geschichte ist voll von Heldentaten, eindrucksvollen Ereignissen oder genialen Erfindungen. Welche Rolle spielen aber die Gefühle? Ein Gespräch mit zwei Autoren, die sich der Innenwelt unserer Vorfahren zuwenden und dabei die Emotionen hinter den Fakten entdecken.

Jan Plamper, der zwischen Berlin und London pendelt, ist etwas früher da. Florian Illies arbeitet nebenan, im Auktionshaus „Villa Grisebach“. Als die beiden sich zur Mittagspause im Berliner Literaturhaus treffen, erwähnen sie zuerst die großen Meister unter den deutschen Historikern. Gemeinsame Vorbilder fördern das gegenseitige Vertrauen - vielleicht auch die Tatsache, dass beide Anfang 40 sind und in ihrem jeweiligen Bereich dennoch schon als Kapazitäten gelten. Überhaupt sind der Professor und der Kunstexperte schnell auf der gleichen Linie: Ein Glück, dass ihre Bücher fast zeitgleich erscheinen und sich so die Gelegenheit eines Austauschs ergibt.

Sollen sich Historiker mit Gefühlen befassen, Herr Illies?

Florian Illies: „Geschichte und Gefühl“ zu verbinden, wie der Titel von Herrn Plamper suggeriert, das macht mich sehr neugierig. Ich denke, dass es überfällig ist, die emotionale Dimension der Geschichte in den Blick zu nehmen – beziehungsweise: wieder in den Blick zu nehmen. Ich war schon immer sehr skeptisch gegenüber jener Einengung von Geschichte als Heldengeschichte, als Sozialgeschichte oder als „Balance of Power“. Es waren für mich die interessantesten Vorlesungen in Neuere Geschichte, die versuchten, das Bild einer Epoche möglichst umfassend zu schildern.

Und Sie Herr Plamper, wie neugierig sind Sie auf „1913“ gewesen?

Jan Plamper: Sehr, auch weil ich Hans-Ulrich Gumbrechts Buch über das Jahr 1926 - wie 1913 ein „gewöhnliches“ Jahr - kenne. Gumbrechts Organisationsprinzip ist das Alphabet statt des Zeitstrahls. Bei Ihnen ist es aber anders, denn Ihr Buch beschränkt sich zwar auf ein Jahr, ist aber innerhalb des Jahres chronologisch komponiert.

Florian Illies: Wie in diesem Buch über 1926 habe ich eine Art Querschnittperspektive ausgewählt. Ich habe aber vor allem versucht, an Biografien, an Menschen und natürlich an Gefühle heranzugehen, um Werke zu interpretieren. Thomas Mann fängt deshalb so spät mit dem Zauberberg an, weil er wegen einer Theaterrezension des Kritikers Alfred Kerr tief gekränkt und völlig aus der Bahn geworfen ist. Diese Kritik beschäftigt ihn monatelang. Kerr, der sich früher um die Gunst seiner Frau bemüht hatte, bezeichnete das Stück als unmännlich … Aus solchen Anekdoten kann man viel erzählen.

„Ziemlich viel inneres Leben“, schreibt Käthe Kollwitz 1913 … Haben Sie deshalb dieses Jahr gewählt?

Florian Illies: Zwei Kunstwerke, die 1913 entstanden sind, nämlich Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ und Duchamps erstes Readymade – das Fahrrad-Rad –, waren für mich ausschlaggebend. Ich hätte sie spontan später eingeordnet. Wir denken oft, dass die Moderne erst nach dem Ersten Weltkrieg anfängt. Doch diese Erkenntnis, dass die Kunst schon vorher ihren Nullpunkt und Zivilisationsbruch hatte, war für mich ein Ansporn, mich genauer in dieses besondere Jahr zu vertiefen – das bislang oft vernachlässigt wurde. Man wollte oft schnell zum Jahr 1914,  zum Kriegsausbruch kommen. Ich wollte dieser Beschleunigung der Erzählstimme Standbilder aus 1913 entgegensetzen.

Herr Plamper, in Ihrem Buch zeigen Sie, dass nicht nur Frauenzeitschriften die Kraft der Emotionen entdeckt haben, sondern auch Historiker. Gefühle haben überall Konjunktur. Woran liegt das?

Jan Plamper: Vielmehr sollte man sich fragen, warum sie so lange aus der Geschichtsschreibung ferngehalten wurden. Es gibt eine Unmenge von Zeugnissen, die auf die Rolle der Emotionen verweisen – bei Entscheidungen, für das Menschsein im Allgemeinen. Damit Emotionen endlich Eingang in die Geschichtsbücher fanden, musste einiges zusammenkommen. Die Frauenbewegung der 70er Jahre hat dazu beigetragen, sie aufzuwerten. Die Psychologie hat sich auch Emotionen zugewendet. Die Historiker, die früher die Realität vornehmlich als sprachlich vermittelt auffassten, wollten wieder ein Konzept von direkterer Wirklichkeit. So hat man sich den Emotionen zugewandt, die als besonders körperlich und vorsprachlich gelten. Schließlich glaube ich, dass 9/11 all diese Prozesse wie ein Katalysator beschleunigt hat. Die Ironie geriet in eine Krise.
Florian Illies: Der 11. September 2001 ist sehr plausibel, weil erstmals ein Bild in sekundenschnelle eine weltweite Gleichzeitigkeit der Emotion herstellte. Und weil die Religion in ihrer Bedeutung wieder in den Blick geriet.
Jan Plamper: Eine Phase der Ernsthaftigkeit ist eingetreten.

Bei Ernsthaftigkeit denkt man aber eher an Zurückhaltung als an Gefühlsausbrüche …

Jan Plamper: Wir dürfen Emotion nicht mit mangelnder Rationalität verwechseln. Gefühle und Vernunft wurden zu lange ausein­andergehalten. Man hat außerdem Emotionen zu oft mit Nationalcharakter oder Mentalität gleichgesetzt. Heute sind Emotionen als feste Bestandteile unserer Entscheidungen anerkannt.

Emotionen können trotzdem besonders flüchtig, verborgen und intim sein. Wie genau spürt man die Gefühle in der Vergangenheit auf?

Jan Plamper: Sie fragen nach den Quellen? Die frühe Emotionsgeschichte hat sich auf Ratgeberliteratur beschränkt, also auf Dokumente, in denen beschrieben wird, wie man zu fühlen hat und wie man sein Verhalten danach richten soll. Eine Zeit lang schien es dann, als gewährten nur sogenannte „Ego-Dokumente“ wie Tagebücher oder Briefwechsel Einblicke in die Gefühlswelt – das lag daran, dass wir Gefühle als das Ureigenste und Innerlichste begreifen. Heute untersucht die Emotionsgeschichte eigentlich alle Quellensorten der Geschichtswissenschaft. Es gibt sogar Archäologen, die Grabstätten vergleichen und anhand ihres räumlichen Arrangements über den Gemütszustand der Menschen, die sich in ihnen bei Ritualhandlungen bewegten, spekulieren.

Florian Illies: Ich habe in meinem Buch den einfachsten Weg gewählt, weil ich Menschengeschichten erzähle. Egal ob für Thomas Mann oder Sigmund Freud, ich habe Originaldokumente, Tagebücher, Briefe gesichtet, um etwas über ihre Gefühle und ihre Stimmungen herauszufinden. Ich bin dann wie bei einer Collage vorgegangen. Mein Ziel war es, aus vielen Mosaiksteinen eine Form für das Jahr 1913 entstehen zu lassen. Freud leidet daran, dass C.H. Jung sich von ihm trennt. Er verarbeitet es, indem er zum Thema Vatermord schreibt. Dann kommt ein Schnitt und es geht um etwas ganz anderes: Oskar Kokoschka versucht, für Alma Mahler, von der er besessen ist, ein Meisterwerk zu schaffen.

Wie aufschlussreich sind Bilder, insbesondere Kunstwerke, um Emotionen zu rekonstruieren?

Jan Plamper: Sehr aufschlussreich, aber die emotionshistorische Forschung darüber steckt noch in den Kinderschuhen. Die Kunstgeschichte ist hier viel weiter.

Florian Illies: Die Aufgabe eines Kunsthistorikers ist es, anhand von bestimmten Kriterien ein Bild zuzuordnen – zeitlich und geografisch. Dass der Maler seine Empfindungen in sein Werk einfließen lässt, liegt auf der Hand. Dennoch wird seine Gefühlswelt weniger untersucht. Es würde sich lohnen, in diese Richtung emotionale Botschaften zu suchen, indem man zum Beispiel Dokumente über die Hintergründe eines Werkes studiert. Gleichzeitig sollte man aufpassen: In der Kunst gibt es immer etwas Unerklärbares. Bei meiner Recherche über „1913“ waren andere Quellen wie Zeitschriften, insbesondere die Anzeigen, die Gefühle vermarkten, auch sehr interessant.

Wie können die Gefühle einer kleinen Gruppe von Künstlern und Intellektuellen etwas über die ganze Gesellschaft erzählen?

Florian Illies: Ich beschäftige mich mit dem Gemütszustand von Franz Kafka, zum Beispiel, nicht zuletzt deshalb, weil sein Werk von großer Bedeutung für uns heute ist und kanonisiert ist.  Die Avantgarde erzählt immer auch etwas über die Normalität drumherum.
In den Medien, in der Trendforschung ist von „Diagnose“ oder „Gefühl der Zeit“ die Rede. Kann man die Gemüter einer ganzen Epoche unter einem Begriff fassen?

Jan Plamper: Das würde ich nicht tun. Die Emotionsgeschichte sollte nicht hinter das Komplexitätsniveau anderer Felder der Geschichtswissenschaft zurückfallen. Man muss genau unterscheiden nach Individuen und nach den Gruppen, denen sie angehörten. Künstler etwa gehören zur Gemeinschaft der Künstler. Als Kandinsky in München ist, ist er aber gleichzeitig russischer Emigrant und hat weitere Identitäten, die seine Gefühle beeinflussen. Das alles muss berücksichtigt werden.

Florian Illies: Ich bin auch dagegen, ganze Epochen mit einem einzigen Gefühl zu beschreiben. Denn das Faszinierende ist, dass es alles gleichzeitig gibt: Kriegsangst und Kriegsbegeisterung zum Beispiel. Das berühmte „Zeitalter der Empfindsamkeit“ im späten 18. Jahrhundert war für manch einen eine Zeit der Langeweile oder der harten Arbeit. In meinem Buch zeige ich, dass bestimmte Gefühle sich auf eine Speerspitze beziehen. Mies van der Rohe, der damals ein Architekturbüro gründet, oder junge Maler haben nicht die gleichen Sorgen und Hoffnungen wie der 60-jährige Freud. Die verschiedenen Protagonisten befinden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, je nach Generation, in einer ganz anderen Lebensphase. Schlagwörter können diese Komplexität nicht widerspiegeln.

Im Jahr 1913 ist Neurasthenie, die alte Form des Burnout, verbreitet. Geraten negative Gefühle wie Angst, Wut, Depression nicht öfter ins Blickfeld der Historiker – genauso wie Krieg, Gewalt oder Krise?

Jan Plamper: Früher war Angst ein beliebter Untersuchungsgegenstand, weil sie als so elementar und körperlich gilt. Heute wird über ein viel breiteres Spektrum von Emotionen geforscht. Selbst die Unterscheidung zwischen „negativen“ und „positiven“ Emotionen ist ins Blickfeld geraten. Diese Unterscheidung ist nämlich nicht gottgegeben, sondern ebenfalls Produkt einer bestimmten Zeit; sie geht auf die Messmethoden des psychologischen Laborexperiments des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück.

Florian Illies: Mir ging es weniger um Depression, Krieg oder Krise, gar um Ruhe vor dem Sturm, sondern eher um Menschen und Werke, die uns nah sind, insofern als sie in einer Weise denken oder handeln, die uns „modern“ erscheint. Die Geschichte vor 1914 sehen wir oft mit Schwarz-Weiß-Bildern im Kopf. Ich will es als Farbfilm erzählen.

Jan Plamper: Hat man 1913 vom „Zeitalter der Neurasthenie“ gesprochen?

Florian Illies: Kafka erwähnt „das nervöse Zeitalter“.

Jan Plamper: Denn es ist wichtig, wenn die Akteure selbst eine Emotion als Signatur ihrer Epoche sehen. Denken Sie zum Beispiel an „das Zeitalter der Angst“, „the Age of Fear“, das in den USA nach dem 11. September 2001 als Schlagwort überall vorkam. So etwas entfaltet Wirklichkeit, wirkt in die Gesellschaft hinein.

Wie groß ist die Gefahr des Anachronismus, der falschen zeitlichen Einordnung, wenn wir Gefühle von heute auf vergangene Epochen übertragen?

Jan Plamper: Diese Gefahr ist bei Gefühlen besonders groß, weil Emotionen in unserem Alltagsverständnis als allgemein menschlich und losgelöst von Zeit und Kultur gelten. Aus dieser Anachronismus-Falle herauszukommen, ist wahrscheinlich das Hauptziel der Emotionsgeschichte. In meinem Buch wollte ich aber vor allem auf ein anderes Risiko hinweisen. Seit dem 19. Jahrhundert sieht die Emotionsforschung Gefühle entweder als naturgegeben und unveränderlich oder als konstruiert und damit dem Bereich der Kultur zugehörig. Diese Zweiteilung ist nicht erkenntnisförderlich und übrigens unnötig: Noch vor dem 19. Jahrhundert wurden Natur und Kultur nicht als gegensätzlich begriffen. In meinem Buch habe ich versucht, Wege aufzuzeigen, die aus dieser Sackgasse führen. Dabei schaue ich mir auch die ethnologische und die psychologische Emotionsforschung an, einschließlich der neurowissenschaftlichen. Mein Buch ist zwar als Einführung und Synthese konzipiert, aber auch als Intervention im derzeit vielleicht spannendsten Feld der Geschichte.

Florian Illies: Ich glaube schon, dass Gefühle manchmal allzu schnell in vergangene Epochen hineinprojiziert werden. Nach zwei Weltkriegen ist es schwierig, einen früheren Zustand oder eine Gefühlswelt zu simulieren, in der unsere Erfahrungen von Krieg sozusagen gelöscht sind. Genauso problematisch ist die Vorstellung dessen, was Hexenangst in der frühen Neuzeit bedeutete.

Wenn Historiker in hundert Jahren über unsere heutige Gefühlswelt schreiben wollen, was werden sie denn erzählen?

Jan Plamper: Wir haben genügend Schwierigkeiten mit der Aufgabe, die Vergangenheit zu rekonstruieren …

Florian Illies: Und wir wissen es nicht! Das ist der große Vorteil von Gegenwart!

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer Verlag, 320 Seiten 19,99 Euro

Hörbuch
Gelesen von Stephan Schad. DAV, 5 CDs, 19,99 Euro

Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. Siedler, 480 Seiten, 29,99 Euro

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