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Interview: Meike Dannenberg (md) | Fotos: Hakon Eikesdal

Jo Nesbø

Der Hundertmeterlauf der Literatur

Der Norweger Jo Nesbø gehört zu den bekanntesten skandinavischen Thriller-Autoren. Außerdem ist der Vierundfünfzigjährige Sänger einer erfolgreichen norwegischen Band. BÜCHER sprach mit ihm über Erfolg, die Krimi­literatur in Norwegen nach Utøya und die Todes­sehnsucht seines Protagonisten Harry Hole.

Warum muss Harry Hole in „Die Larve“ wieder so sehr leiden?

Das ganze Geschichtenerzählen wird von Konflikt und Drama bestimmt. Es braucht diesen inneren Kampf zwischen der Person, die Harry sein will und der Person, die er ist. Das ist wichtig für die Atmos­phäre des Romans.

Ja, aber er wird auch körperlich verletzt. In diesem Buch blutet er ja fast die ganze Zeit ...

Oh, körperlich! Ja, das tut mir auch furchtbar leid (lacht). Er ist eine Art Punchingball für meine Geschichte geworden. In den letzten drei Büchern ist es auch immer eine Frage, ob er überleben wird. Doch noch interessanter ist es, ob seine Seele überlebt. Ob er in die Hölle kommt oder in den Himmel, wenn er stirbt, ob er mental überlebt.

War es für Sie wichtig, dass er deshalb in diesem Buch so auf die Probe gestellt wird? Wäre es nicht besser für ihn, vielleicht nicht alles zu wissen?

Wenn man einen Helden hat, wie Harry, dann wird er normalerweise die Wahrheit für den Leser herausfinden. Doch in diesem Buch ist es nicht notwendig, ich habe quasi einen Vertrag mit dem Leser, dass ich ihm die ganze Geschichte erzählen werde. Ich spiele mit den beiden Zeitebenen, die zusammenlaufen. Vielleicht findet Harry es nie heraus. Das ist aufregender.

Haben Sie das alles geplant? Bis zum Schluss kann sich dieses Mal noch alles wieder ändern.

Oh ja. Ich plane alle Bücher sehr detailliert, bevor ich anfange zu schreiben. Normalerweise mache ich eine Synopsis von rund 100 Seiten, damit ich genau weiß, wo ich lang muss. Dann mache ich drei Versionen. Die erste Version kommt aber der letzten schon sehr nahe, fast zu 90 Prozent. Ich stelle Regeln auf. Manche Schriftsteller achten nicht darauf, aber es ist sauberer, wenn man sich Regeln vorgibt. Zum Beispiel fünf Personen mit Innenansicht, nicht mehr.

Dieses Buch erscheint mir noch komplexer als das letzte.

Es war wahrscheinlich das komplizierteste Buch. Ich musste etwas anders denken. Kennen Sie den Film „Memento“? Die Handlung läuft rückwärts. Hier ist es ähnlich: Der Leser möchte viel mehr wissen, was vorher geschah, als was noch geschehen wird.

Sie verletzten Harry teilweise so stark, dass es wirkt, als wollten Sie ihn vielleicht endlich los sein?

Dass ich ihn loswerden möchte? Oh ja, manchmal möchte ich das! Er ist ein furchtbar ermüdender Charakter. Er erschöpft mich. An einem Punkt, wenn ich ein Buch schreibe, möchte ich es nur noch beenden. Ich mag ihn, aber er geht mir auch auf die Nerven, weil er so sehr nach seinem eigenen Untergang sucht. Als hätte er einen Todeswunsch. Als ich den Charakter entworfen habe, habe ich mich gefragt, warum er trinkt und Drogen nimmt; es ist sein Wunsch nach der ultimativen schmerzlosen Dunkelheit. Gleichzeitig hat er aber zu viel Appetit auf das Leben, um sich umzubringen.

Sie haben in einem Interview gesagt, Sie hätten immer gedacht, Sie und Harry hätten nichts gemeinsam, aber inzwischen seien Ihnen doch Ähnlichkeiten aufgefallen. Welche sind das?

Es ist wahrscheinlich unmöglich jahrelang so viel über einen Charakter zu schreiben, ohne einige elementare Eigenschaften zu teilen. Wir haben den gleichen Musikgeschmack, die gleichen politischen Ansichten und wir mögen ähnliche Dinge. Zweifellos kann ich mich mit seinem Bedürfnis identifizieren, Zeit für sich zu brauchen und auch mit dem Gefühl, gleichzeitig ein zynischer Analytiker und ein romantischer Narr zu sein (lacht).

Ich kenne keinen anderen Helden in der Krimiliteratur, der so viel leiden muss. Sie?

Oh wirklich? Keine Ahnung, ich lese kaum Kriminalliteratur. Ich lese gerade einen brillanten norwegischen Autor, das ist seriöse Literatur.

Sind Krimis keine seriöse Literatur?

Sie können es sein. Aber Menschen, mit Vorurteilen gegen Krimis haben häufig recht. Es ist einfacher, mit schlechtem Schreiben und schlechten Geschichten im Krimigenre veröffentlicht zu werden.

Und ein Krimi folgt Regeln. Man muss die Welt nicht neu erfinden?

Es ist wie der Hundertmeterlauf der Literatur. Man muss nur die 100 Meter so schnell man kann,  unter 10 Sekunden, schaffen. Aber es gibt eine große Konkurrenz und so ist es viel schwieriger, der Beste zu sein.

In Ihrem Lebenslauf kann man sehen, dass fast alles, was Sie anfassen zu Gold wird. Wie fühlt sich das an? Sie hatten in so vielen Dingen Erfolg.

Ich empfinde es häufig so, dass der Mythos besteht, dass ich in allem Erfolg hätte. Aber ich erzähle Ihnen nicht, worin ich in meinem Leben nicht erfolgreich war. Ich mag diesen Mythos!

Sie haben in einem Interview erzählt, dass Sie auch von Dingen abhängig sind, wie Harry. Ist es Arbeit?

Ja, es könnte Arbeit sein. Aber vor allem verstehe ich, was es heißt, überhaupt von etwas abhängig zu sein. Das kann auch Kaffee sein.

Ist es nun schwieriger, Krimis in Norwegen zu schreiben, wo das unfassbare Verbrechen durch die Morde auf Utøya so nah gekommen ist?

Alles was passiert, beeinflusst die Art, in der man schreibt. Im eigenen Leben, überall auf der Welt und gerade dann, wenn es so nah an der Heimat ist. In einigen Geschichten, die ich vor einigen Jahren geschrieben habe, erkenne ich retrospektiv erst, warum ich offensichtlich bestimmte Dinge so oder so geschrieben habe. Bestimmt wird mich Utøya beeinflussen. Ich weiß nur noch nicht wie.

Kann man denn überhaupt noch Krimis schreiben, wenn das Böse so dicht aufrückt? Sich Fiktion und Wirklichkeit so nahe kommen?

Ich weiß, was Sie meinen. Doch wenn es in Krimis nur darum ginge, wie Menschen getötet werden, dann hätten Sie recht. Aber es geht um das „warum“. „Wie“ ist einfach, „warum“ ist interessant! Und das wird wahrscheinlich der Grund sein, warum sich in den nächsten Jahren in der Kriminalliteratur in Norwegen das „wie“ verändern wird. Es ist eine No-Go-Area, ein Massaker auf einer Insel zu beschreiben. Aber das Interesse nach dem „warum“ ist sogar noch stärker geworden, gerade deshalb. Das fragt sich jeder: warum?

Was glauben Sie?

Ich bin in fiktionalem Schreiben qualifiziert, und nicht, über die Ereignisse in Utøya zu sprechen, vor allem, weil ich nicht notwendigerweise die Meinung aller Norweger wiedergeben kann. Ich habe einen Artikel für die New York Times geschrieben, über meine persönliche Sicht. Das Ereignis hat alle Norweger und meine Generation verändert und wir werden uns daran erinnern, solange wir leben. Aber es ist nicht wie der 11. September oder der Mord an Olaf Palme in Schweden: Nie die Wahrheit zu finden und den Mörder wurde zu einem Trauma in der schwedischen Gesellschaft. Der 11. September hat Amerika verändert, weil sie sich elementare Fragen stellen musste, wie „warum hassen uns so viele Menschen?“. Bei uns repräsentiert der Attentäter keinen wichtigen Bereich der politischen Landschaft, keinen rechten Flügel und keine Gruppe. Er ist ein einzelner Verrückter, der Steroide nimmt und seine politischen Ansichten sind unverständlich. Also warum verbindet man das mit einer großen Partei? Wir sind aber immer noch zu nah an den Ereignissen, um zu analysieren, was sie bewirken, aber ich glaube es wird die norwegische Gesellschaft weniger verändern, als wir heute denken.

Wie kann sich der Leser einen normalen Tag bei Ihnen vorstellen?

Ich habe keine normalen Tage. Wahrscheinlich stehe ich gegen neun auf, schreibe bis um dreizehn  Uhr im Café, gehe für zwei Stunden klettern, treffe meine Tochter zum Mittag und schreibe zwei weitere Stunden. Und abends spiele ich einen Gig in Oslo. Das ist ein ziemlich normaler Tag!

Das klingt großartig!

Ist es! (lacht)

Jo Nesbø: Die Larve. Übersetzt von Günther Frauenlob. Ullstein, 576 Seiten, 21,99 Euro

Jo Nesbø: Die Larve. Gelesen von Rafael Stachowiak, Achim Buch. Hörbuch Hamburg, 6 CDs, 24,99 Euro

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