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Gespräch mit Urs Meier zum EM-Auftakt

Der Schiri, der ganz oben mitspielt

Urs Meier sitzt im offenen weißen Hemd vor dem Skype-Bildschirm am Schreibtisch, er wirkt locker und wohlgebräunt. So sieht also Büroalltag in Marbella aus. Meier ist viel auf Reisen und gerade mal wieder zu Hause. Im Gespräch plaudert er charmant und hochengagiert, er spricht durchdacht und betont seine Aussagen mit Gesten, öfter mal rutscht ihm ein Schweizer „odr“ durch. Man merkt, er hält seit Jahren Coaching-Vorträge.

Herr Meier, im Einstieg Ihres Buchs fordern Sie, endlich den Beruf des Schiedsrichters zu professionalisieren. Sie wettern neben der Fifa und der UEFA auch gegen die Schiedsrichterverbände.
Bei allen Diskussionen über den Fußball ist der Schiedsrichter ein gern gesehenes Opfer. Ich stelle oft die ketzerische Frage: Will man den Schiedsrichter überhaupt stark machen? Und je länger ich dabei bin, muss ich erkennen: Nein, man will das gar nicht. Der Fußball hat sich in den letzten 50 Jahren unglaublich professionalisiert, aber die Schiedsrichterei befindet sich immer noch auf dem Amateurstatus von damals. Wenn nichts geschieht, dann wird dieser Gap immer weiter auseinandergehen. Der Fußball wird noch intensiver, noch besser, die Spieler werden noch cleverer. Und die Schiris versuchen, irgendwie hinterherzulaufen.

Am Amateurstatus hat man ja im Fußball auch lange festgehalten. Liegt es vielleicht auch am konservativen Sport an sich, dass sich die Traditionalisten immer wieder durchsetzen?
Das ist bis heute so. Die Vereine sind unglaublich professionell geworden, und trotzdem gibt es immer noch ehrenamtliche Vorstände und Präsidenten. Gerade in Deutschland ist es sehr verbreitet, dass man das Ehrenamt immer noch hochhält. Aber die Erste Bundesliga ist eine riesige Maschinerie, eine Unterhaltungsindustrie par excellence, da hat das Ehrenamt nichts mehr zu suchen. In den USA ist die Schiedsrichterei in allen Sportarten professionell aufgestellt und die Profisportler sind absolut happy, dass sie Profischiedsrichter haben.

Immerhin, jetzt will die Fifa ja endlich den Videobeweis testen. Das hatten Sie ja schon vor Jahren gefordert.
Ja, es hat ja jetzt große personelle Veränderungen gegeben, nicht nur in der Fifa. Einer der größten Blockierer von Neuheiten war UEFA-Präsident Michel Platini. Schon 2009, als die Torrichter eingeführt wurden, habe ich zu ihm gesagt: Das kannst du vergessen, mit dem Torrichter schaffst du nur neue Probleme. Willst du in Zweifelsfällen erkennen, ob der Ball drin war oder nicht, dann musst du Torlinien-Technik einsetzen. Die Fifa hat das begriffen und zum Glück damals einen anderen Weg eingeschlagen.

Warum wird eigentlich jemand Schiedsrichter?
Da gibt es bei jedem andere Gründe. Gut, wenn man zu Hause nichts zu sagen hat und das auf dem Fußballplatz kompensieren will, wäre das sicher kein guter Grund. Bei manchen spielt es eine Rolle, dass sie selber in die obersten Ligen kommen und Teil dieses ganzen Spektakels sein wollen. Jeder Schiri, der ganz oben mitspielt, weiß aber auch: Die Leute kommen nicht wegen des Schiedsrichters ins Stadion. Darum ist es wesentlich, dass man sich nicht so wichtig nimmt, dass man sich selber zurücknehmen kann. Es gibt zu viele Schiedsrichter, die sich selbst in den Mittelpunkt stellen, das kommt nicht gut an.

Was ist für Sie der besondere Reiz daran?
Es ist faszinierend, immer schwierigere Aufgaben zu lösen. Das ist wie bei einem Bergsteiger, der einmal die Eiger Nordwand bezwungen hat, dem ist dann die normale Route zum Gipfel einfach zu langweilig. Auch als Schiedsrichter wirst du immer süchtiger nach neuen Herausforderungen: Lasst mich ein schwieriges Spiel pfeifen, gebt mir Bayern gegen Dortmund oder ein Entscheidungsspiel, wo es um den Abstieg geht, gebt mir eine schwierige Aufgabe. Wenn die Zuschauer danach sagen, das war ja ein einfaches Spiel, dann hat man diese Aufgabe gut gelöst.

Ist also der gute Schiedsrichter der, den man gar nicht bemerkt?
Der ehemalige Trainer der Schweizer Nationalmannschaft Rolf Fringer hat mir mal gesagt: „Wenn du kommst, ist es immer langweilig, du machst die Spiele so einfach. Da kann man sich gar nicht richtig aufregen.“ Das empfand ich als schönes Kompliment.

Der Schiedsrichter Urs Meier ist im normalen Leben aber auch ein Fußballfan?
Ja, unbedingt. Das ist auch eminent wichtig, denn die ganz guten Schiedsrichter kennen nicht nur die Regeln, sondern müssen auch ein gewisses Fußballverständnis haben. Echter Fan sein, das heißt ja auch, sich mit der Materie ausei­nanderzusetzen, sich Hunderte von Spielen anzusehen und dabei immer weiterzubilden. Ich empfinde es als ganz großes Problem, dass manchen Schiedsrichtern genau das fehlt.

Kann man das lernen?
Sicher. Auch in diesem Punkt müsste man professioneller werden und eng mit Trainern und Mannschaften zusammenarbeiten. Ich habe das selbst erfahren, als ich Jürgen Klopp kennengelernt habe. Der hat mir unglaubliche Taktiken erklärt und auf was man dabei achten muss. Da war ich manchmal echt baff. Manches davon hatte ich vielleicht vorher instinktiv richtig gesehen, aber nicht bewusst wahrgenommen.

Sie haben zusammen mit Jürgen Klopp bei der WM 2006 für das ZDF moderiert und dafür später den Deutschen Fernsehpreis erhalten.
Ich hab das schon oft erzählt: Unser erstes Treffen vor der Sendung war Liebe auf den ersten Blick. Jürgen und ich sind beide Verrückte, jeder auf seine Art, aber das hat von Anfang an menschlich und fachlich gepasst. Auch im Zusammenspiel mit Moderator Johannes B. Kerner, der gespürt hat, wie er die Bälle verteilen muss. Wir sind ja als Expertenteam aus der zweiten Position gestartet, Netzer und Delling waren die Benchmark, die zu erreichen war. Das ZDF war mutig und hat sich mit dem Konzept auf neue Pfade gewagt. Und alles passte: Draußen im Land war Party, bei uns im Studio auch. Gleichzeitig haben wir versucht, den Menschen andere Perspektiven auf den Fußball zu vermitteln und die Zuschauer fanden das spannend.

Sie haben im Buch zwei Spiele ganz besonders he­rausgehoben, die Sie geleitet haben. Das eine, das Sie als sehr positiv empfunden haben, war das Spiel USA gegen Iran bei der WM 1998 in Frankreich. Das andere wichtige Spiel war das Viertelfinale England gegen Portugal bei der EM 2004.
Bei dem Match USA gegen den Iran war mir von Anfang an klar, dass es brisant ist. Unter den ganzen Schiedsrichtern war mir scheinbar als Einziger klar, dass das eine politisch wichtige, sogar eine historische Begegnung ist. Schon bei der Auslosung dachte ich: Das wird mein Spiel sein. Dass es friedlich und fair ablief und mit dem 2:1 für den Iran noch sozusagen den „richtigen Sieger“ hatte, kam dazu. Bei der EM 2004 habe ich ein Tor der Engländer kurz vor Schluss nicht gegeben, weil der portugiesische Torwart behindert wurde. Direkt nach dem Spiel hatte ich die Bilder noch einmal gesehen. Und mir war eigentlich klar, ich habe alles sehr gut gemacht und ich werde das Finale pfeifen. Ich hatte die Szene in dem Moment nicht ganz genau erkennen können, aber das ganze Bild hat nicht gestimmt, mit Terry und Campbell und dem portugiesischen Torhüter Ricardo. Und so habe ich aus dem Bauch heraus einfach richtig entschieden.

England schied dann im Elfmeterschießen aus und das englische Boulevardblatt „The Sun“ organisierte eine Hetzkampagne gegen Sie. Was passierte am nächsten Morgen?
Der Computer brauchte ewig, bis er hochgefahren war, dann kam die Mitteilung: Du hast 16 000 neue Mails, es waren fast alles Hassmails von englischen Fans. Und ich dachte: Scheiße, was läuft hier? Dann habe ich endlich die Zeitungen gesehen. Ich dachte, ich bin im falschen Film. Das Schlimmste aber war, dass die UEFA damals nichts gegen die Hetzkampagne unternommen hat und mich einfach im Regen stehen ließ.

Sie erhielten Morddrohungen, Reporter belagerten Ihr Haus in der Schweiz, Sie erhielten über mehrere Wochen Polizeischutz. Wie hält man das aus?
„Was einen nicht umbringt, macht einen stärker“, dieser Spruch stimmt schon. So etwas macht dich tatsächlich stärker. Und du lernst, du musst dich in solchen Situationen selber kümmern und kannst dich auf keinen Dritten verlassen. Und wer weiß, wofür es gut war? Wäre das nicht passiert, würden wir dieses Interview vielleicht nicht führen. Vielleicht hätte ich dann das Finale gepfiffen, aber kein Schwein würde heute noch wissen, wer eigentlich Urs Meier war. Außer vielleicht die ganz großen Fußballfans. Heute ist es gut, so wie es ist: Ich bin immer noch beim ZDF, bin immer noch in den Medien, nur mein Job hat sich verändert, ich halte viele Vorträge über Führungsfragen und Management.

Sie pfeifen überhaupt nicht mehr als Schiedsrichter, nicht mal im Hobbybereich. Vermissen Sie das nicht manchmal?
Nein, das war eine Grundsatzentscheidung. Ich habe gesagt, die Zeit der kurzen Hosen ist vorbei, jetzt ist die Zeit der langen Hosen. Ich vermisse das auch nicht mehr. Ein einziges Mal habe ich es noch einmal gefühlt. Vor drei, vier Jahren war ich im San Siro Stadion beim Spiel AC Mailand gegen Inter Mailand. Da bin ich so eine Dreiviertelstunde vor dem Spiel ins Stadion gekommen, alles war schon angerichtet, da habe ich beim Blick auf den Rasen gedacht: wow, geil. Da würde ich jetzt gerne unten stehen. Das war aber das einzige Mal, dass ich so einen kleinen Rückfall hatte.

Die EM in Frankreich beginnt am 10. Juni. Werden Sie dort wieder als TV-Experte arbeiten?
Ja, ich werde zusammen mit den beiden Ollis, Welke und Kahn, beim ZDF zu sehen sein.

Ihr Tipp: Wer wird diese EM gewinnen?
Für mich ist Deutschland als amtierender Weltmeister klarer Favorit. Sie stellen einfach eine komplette Mannschaft und haben ein hervorragendes Trainergespann. Mein Herz aber wird natürlich für die Schweiz schlagen, der ich viel zutraue, wenn sie als verschworenes Team auftritt.

Das Interview führte Michael Pöppl für BÜCHERmagazin 05/2016

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