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Interview: Tina Schraml (ts)

Romanbiografie

Die ganze Welt

Maiken Nielsen hat eine Romanbiografie über ihren Großvater geschrieben. Wir trafen die Hamburger Autorin und sprachen mit ihr über die Faszination der Zeppelin-Ära und das abenteuerliche Leben von Christian Nielsen. 

In dieser gemütlichen Küche in Hamburg Ottensen saßen wir bereits vor 13 Jahren, bei Tee und Büchern. Damals ging es um den Roman „Das Haus des Kapitäns“, dessen Hauptfigur Aline einen klitzekleinen Auftritt im neuesten Werk von Maiken Nielsen hat. „Käthe und Aline auch wieder auftauchen zu lassen, das war mir ein Bedürfnis, zumal es zeitlich perfekt passte, sie am Rande der Hochzeitsgesellschaft meiner Großeltern einzubauen“, erzählt sie lachend. Zusammen stöbern wir in alten Dokumenten und tauchen in die faszinierende Lebensgeschichte ihres Großvaters Christian Nielsen ein, der 1929 als Matrose auf der Orion, der damals größten Luxusjacht, die Welt umsegelte. Er war als Navigator auf der Brasilienlinie der Graf Zeppelin unterwegs und überlebte den Absturz der Hindenburg.

Das Buch beginnt damit, dass Ihr Großvater als junger Matrose den Untergang des Chileseglers Pinnas überlebt. Warum sind Sie mit dieser Szene eingestiegen?
Ich wusste, dass ich mit diesem Schiffsunglück anfangen will, weil es zum einen die große Katastrophe vorwegnimmt und zum anderen das erste einschneidende Erlebnis im Leben meines Großvaters war. Der Schiffsuntergang ist eine dieser Familienlegenden – es wurde immer erzählt, wie er sich dabei den Kiefer gebrochen und der Schiffskoch ihn mitten im Sturm geschient hat. Mein Vater hatte auch den Schiffsbericht des chilenischen Dampfers, der die Mannschaft gerettet hat. Den Bericht vom Kapitän fand ich in einem Zeitungsarchiv. So konnte ich die Berichte abgleichen und die Szenen sehr detailliert beschreiben.
 
Inwieweit kannten Sie die Lebensgeschichte Ihres Großvaters und wann wussten Sie, dass Sie darüber einen Roman schreiben wollen?
Im Grunde wusste ich schon seit zehn Jahren, dass ich darüber schreiben will. Als sich das Hindenburg-Unglück 2007 zum 70. Mal jährte, bin ich erstmals nach Friedrichhafen ins Zeppelinmuseum gereist und habe meinen Großvater dort nicht gefunden, weder im Bild noch als Crewmitglied in einer Liste. Da wurde ich neugierig und habe dann später erfahren, dass nur die regulären Offiziere aufgelistet waren und mein Großvater zu den beobachtenden Offizieren gehörte. Ich dachte immer schon, dass mein Großvater eine fantastische Figur ist, und erkannte nun, dass ich das der Welt wohl selbst erzählen muss. Anfangs befürchtete ich jedoch, dass ich nicht so viel über ihn finden würde, weil er bereits vier Jahre nach dem Absturz der Hindenburg verschwand. Aber mein Vater hatte dieses fantastische Familienalbum, mit Fotos von meinem Großvater, wo er als Matrose auf Hawaii und auf Bali ist. Als ich fragte, wie es kam, dass er dort fotografiert wurde, erzählte mein Vater mir, dass Christian auf der Orion-Weltumseglung dabei war. Ich sammelte also immer mehr Fakten und erzählte auch Freunden von der Idee. Jeder war total erstaunt und begeistert, und als dann auch mein Agent dieses Leben unbedingt lesen wollte, nahm die Geschichte ihren Lauf.
 
Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Mein Vater hat vor etwa 15 Jahren Eduard Boëtius getroffen, der ihm noch relativ viel über meinen Großvater erzählen konnte. Die beiden waren damals gleich alt, beide Nordfriesen und ehemalige Seeleute, die dann Zeppeliner wurden. Sie haben sich auf der letzten Fahrt der Hindenburg angefreundet, deshalb spielt er auch in meinem Buch eine Rolle. Boëtius erzählte, dass mein Großvater ihm anvertraut hatte, dass er sich scheiden lassen wollte. Mein Vater war zwar überrascht, konnte sich das aber schon vorstellen, denn meine Großmutter war ein schwieriger Mensch. Nach dem Verschwinden meines Großvaters hat sie meinen Vater zu Christians Schwester Erika wegegeben. Ich habe Familiendokumente und Christians Tagebuch miteinander abgeglichen und im Sylter Archiv geforscht. So habe ich festgestellt, dass meine Großmutter bereits im sechsten Monat schwanger war und die beiden sich erst zweimal getroffen hatten, bevor sie im Mai 1936 geheiratet haben.
 
Wann war Ihnen klar, zu dieser Geschichte muss noch eine andere Frauenfigur dazuerfunden werden – nämlich die amerikanische Journalistin Lil Kimming?
Als ich meinen Vater fragte: „Kannst du dir vorstellen, dass es eine andere Frau gab“, sagte er: „Definitiv, da gab es eine andere.“ Mein Großvater war nach allem, was ich über ihn weiß, ein sehr schöner und charmanter Mann. Ich habe mich auch mit Erika, meiner Großtante, früher viel über ihn unter- halten und sie sagte, ihm flogen die Herzen immer zu. Mein Vater erzählte, dass Christian oft in den USA war, ein Teil unserer Sylter Familie ist auch in die USA ausgewandert. Es könnte also eine Amerikanerin gewesen sein. Das passte sehr gut zu dieser transatlantischen Geschichte – auch als Symbol für diese Zeit, in der sich die Menschen wieder aufeinander zubewegten. Es gibt da durchaus Parallelen zu heute: Auf der einen Seite rückt die ganze Welt immer mehr zusammen und auf der anderen Seite lebt der Nationalismus in vielen Ländern wieder erschreckend stark auf. Das wollte ich herausarbeiten und aufzeigen, wie diese Zeit des großen Aufbruchs in eine kosmopolitische Ära in der Katastrophe 1939 geendet ist.
 
Neben Christian und Lil haben Sie auch einige tragende Nebenrollen wie Hugo Eckener oder Julius Forstmann eingearbeitet, Personen der Zeitgeschichte, die im Roman auch immer wieder auftauchen. Wie kam es dazu?
Ich wollte Hugo Eckner in diesem Buch huldigen, weil er heute fast vergessen ist. Eckener war ein Kosmopolit, hat sich über Politikerköpfe hinweggesetzt, mit Regierungen in den USA und Brasilien verhandelt. Seine Autobiografie hat mich sehr inspiriert, weil er eine große Leidenschaft für Zeppeline hatte. Er war Journalist, Nationalökonom und Segler und kam durch eine Zeppelinkritik für die Frankfurter Zeitung mit Graf Zeppelin in Kontakt, woraufhin sie anfingen, gemeinsam die Zeppeline zu optimieren. So wurde er zum Luftfahrt-Pionier. Um den Menschen zu zeigen, wie sicher dieses Verkehrsmittel war, hat er 1929 die Weltfahrt unternommen, die ich auch im Roman beschreibe. Das hat natürlich unglaublich viel Geld gekostet und deshalb hatte er in den USA den Zeitungsverleger Randolph Hearst als Sponsor gewonnen, der die Fahrt als weltweites Medienspektakel inszenierte. Je mehr ich mich mit der damaligen Zeitgeschichte beschäftigt habe, desto mehr deutsch-amerikanische Verbindungen habe ich gefunden. So wurde das zu einem roten Faden in meinem Buch. Deshalb habe ich auch Forstmann so verstärkt, der als eingewanderter Deutsch-Amerikaner zur Weltumseglung mit der Luxusjacht Orion aufbricht.

Auch New York zur Zeit des Börsencrashs spielt eine wichtige Rolle, dort lernen Christian und Lil sich kennen. Woher wussten Sie, dass Christian damals dort war?
Das habe ich aus dem Schiffstagebuch der Orion erfahren. Ursprünglich war New York nicht so prominent vorgesehen, doch als ich den Zeitpunkt sah, beschloss ich, mehr daraus zu machen, denn die Orion lag dort ziemlich lange, bevor die Weltumseglung startete. Es war wirklich ein Glücksfall, dass ich dieses Schiffstagebuch von Forstmann in einem New Yorker Antiquariat ersteigern konnte. Es gibt davon nur noch fünf Bücher weltweit. Aus diesem Tagebuch leiten sich auch die Passagen der Orion-Fahrt mit den Landgängen rund um die Welt ab. Außerdem ist mein Großvater in dem Buch auch auf einem Mannschaftsbild zu sehen.
 
Tatsächlich ist man als Leser das erste Mal mit Hugo Eckener in einem Zeppelin hoch über der Welt und erlebt, wie Christian seinem Traum hinterhersegelt.
Christian begann erst 1936, auf Zeppelinen zu fahren. Mich faszinierte die Weltreise des Graf Zeppelin 1929 und Christians Weltumseglung auf der Orion zur selben Zeit. Außerdem ist der Hindenburg-Absturz schon sehr oft erzählt worden – das hat mich gar nicht so sehr interessiert. Ich wollte die große Zeppelin-Geschichte, die ganze Ära erzählen.
 
Das stimmt, die meisten Menschen verbinden mit Zeppelinen die Bilder des Hindenburg-Unglücks. Dagegen erfährt man in Ihrem Roman von einer Luftschifffahrt-Ära, die Menschen weltweit bewegte, weil sie den großen Traum von Freiheit und Völkerverständigung symbolisierte.
Diese unglaubliche Nähe zwischen Schifffahrt und der Zeppelinfahrt, obwohl es rein wörtlich auf der Hand liegt, war mir vor meinen Recherchen auch nicht bewusst. Ich dachte vorher das ist Fliegen. Doch Zeppeline lenkt man vor allem mit dem Höhenruder und dem Seitenruder ganz dicht an den Luftströmen entlang, damit man mitgezogen wird – das ist wie Segeln. Es war eine der schönsten Erfahrungen beim Schreiben, mich in diesen Schwebezustand reinzudenken – wie es ist, unter mir die Markthallen von Paris zu sehen, frisches Brot zu schnuppern und die Marktruf er zu hören. Zeppeline sind sehr dicht über die Meere und Länder gefahren, nur 100 Meter hoch. Sehr geholfen haben mir bei meinen Recherchen die Gespräche mit dem amerikanischen Historiker Patrick Russell, einer Koryphäe zur letzten Fahrt der Hindenburg. Russel hat sich über 30 Jahre lang mit allen Passagieren an Bord beschäftigt. Von ihm weiß ich, dass mein Großvater gar kein reguläres Crewmitglied war, sondern den Platz eines 3. Offiziers namens Otto Bedau eingenommen hatte, der zu Schulungszwecken nach Berlin geschickt wurde. So ist er nur ein einziges Mal auf der Hindenburg mitgefahren und zwar auf dieser Schicksalsfahrt. Er hat mir auch die Lakehurst-Untersuchungsprotokolle geschickt, die im Buch auftauchen – dadurch konnte ich teil- weise wortwörtlich übernehmen, was mein Großvater dort sagte. Das war für mich wirklich ein totaler Gänsehautmoment, denn ich wusste nicht, wie mein Großvater gesprochen hat und dadurch war ich ihm zum ersten Mal richtig nah.
 
Christian und Lil sind beide auf ihre Art Freigeister. Bei Christian wird das umso stärker deutlich, als er nach Deutschland zurückkehrt und sich nicht auf den aufkeimenden Nationalsozialismus einlässt.
Genau das war meine größte Angst bei dieser Romanbiografie. Denn ich war sehr weit gekommen mit meinen Recherchen, mein Bild war relativ komplett. Was ich aber nicht wusste, war, ob Christian Mitglied der NSDAP war. Und mir war klar, dass ich das Buch dann nicht schreiben kann, denn ich will keinen Nazi als Helden. Deshalb habe ich eine Anfrage an das Bundesarchiv und ans Militärarchiv gestellt. Meine Familie sagte mir zwar immer, dass er kein Nazi war, aber das reichte mir natürlich nicht. Zumal mir Fachleute erklärten, dass er als Flieger definitiv Parteimitglied war, weil die Piloten die Kampfelite waren. Nach sechs Monaten kam der Stapel vom Militärarchiv mit vielen Zeugnissen, die Vorgesetzte über Christian geschrieben haben. Sie hatten alles durchforstet und er war in keiner nationalsozialistischen Organisation Mitglied gewesen.
 
Wie sind Sie an die Figur Lil herangegangen, sie ist als eine der ersten Journalistinnen auch eine Art Pionierin?
Die war mit einem Schlag da, das war ganz einfach. Dass sie diesen Job haben wird, war klar, denn ich wollte ein Terrain haben, auf dem ich mich wirklich auskenne. Und das sind Frauen und Journalismus (lacht). Lil ist auch bisschen so wie ich, sie ist als Kind und Jugendliche immer sehr in ihrer Fantasiewelt, will dann aber irgendwann mit ihrem Schreiben auch beruflich etwas machen und dann wird es halt schwer. Das konnte ich mir perfekt vorstellen.
 
Im Vergleich zu den Recherchen war der Prozess des Schreibens sehr verdichtet. Das Buch haben Sie in nur fünf Monaten geschrieben – wie kam es dazu?
Extrem verdichtet, wenn man bedenkt, dass ich über den Stoff bereits mein Leben lang nachdenke. Aber als das Buch verkauft war, wurde auch schnell klar, dass ich mir nur fünf Monate zum Schreiben von meinem regulären Job beim NDR freinehmen konnte. Ich war außer mir, denn fünf Monate sind schon sehr knapp, zumal man sich für sein Herzensprojekt natürlich mehr Zeit wünscht. Doch ich hatte den ganzen Plot bereits parat und habe mich dann einfach Hals über Kopf in die Geschichte reingestürzt. Es war wie ein Rausch, wochenlang bin ich kaum vor die Tür gegangen und habe mit meinen Figuren extrem mitgelitten. Beim Schreiben habe ich auch sehr viel geweint, weil mir bewusst wurde, wie schrecklich das alles war. Das Schönste in dieser Zeit waren die kurzen, tiefen Schlafphasen – dann habe ich immer geträumt, dass ich über der Welt schwebe. Das war echt schön (lacht).
 
Es gibt auch eine sehr eindringliche Szene, in der man kurz in das Leben des jungen Widerstandkämpfers Harro Schulze-Boysen eintaucht. Wie kam diese Figur in Ihre Geschichte?
Der Seitenstrang mit Harro Schulze-Boysen hat sich durch die Recherchen zur Flugschule in Warnemünde ergeben. Ich hatte mir die Listen des Jahrgangs 1933 kommen lassen, als mein Großvater dort fliegen lernte. Harro Schulze-Boysen war in demselben Jahrgang und weil ich wusste, dass er ein Widerstandskämpfer war, habe ich weiter nachgeforscht zu seinem Leben. Ich bin mir fast sicher, das mein Großvater in später wiedergesehen hat, weil er im Ministerium war, um seine Medaille für die Rettung der Lakehurst-Opfer entgegenzunehmen. Und so machte diese kleine Parallelhandlung auch Sinn.
 
Ihr Roman hat ein faszinierendes Ende, wollen Sie die Imaginationskraft ihrer Leser herausfordern?
Über das Ende habe ich auch mit meinem Vater viele, viele Male gesprochen. Den Brief, den meine Urgroßmutter von Christian bekommen hat, habe ich fast wortwörtlich im Buch übernommen. Er kam fast gleichzeitig mit der Nachricht vom Militär bei ihr an. Aber das lässt sich heute alles nicht mehr wirklich nachvollziehen. Ich wollte ein offenes Ende mit unterschiedlichen Lesarten.
 
Sie haben für diesen Stoff die Romanbiografie gewählt. Was war Ihnen wichtig bei dieser Gratwanderung zwischen Fakten und Fiktion? 
Alles, was sich nachvollziehen lässt, habe ich erforscht, für den Rest habe ich meine Fantasie eingesetzt. Generell denke ich, dass man als Autor die Aufgabe hat, den Dingen auf den Grund zu gehen. Man kann sie zwar verdichten – im doppelten Wortsinn –, aber die Grundlage muss schon richtig erforscht sein.

Außer Ihren Kinder- und Jugendbüchern haben Sie fast ausschließlich historische Romane geschrieben. Was reizt Sie an historischen Stoffen?
Ich finde es generell spannend, Geschichte mit Fiktion zu verbinden. Ich liebe aber auch Reisegeschichten. Deshalb habe ich zuletzt auch unter dem Pseudonym Mia Sassen Reiseromane für abenteuerlustige Frauen ab 40 aufwärts geschrieben. Vor ein paar Jahren, als meine Tochter mein Webseiten-Design gemacht hat, haben wir zusammen überlegt, wie sich meine bei- den Leidenschaften zusammenfassen lassen: historische Romane und Reisegeschichten. Und da meinte sie sehr treffend, dass es bei mir immer um Reisen durch Raum und Zeit geht.
 
Arbeiten Sie schon an Ihrer nächsten Reise durch Raum und Zeit?
Ja, ich habe ein Thema gefunden, das wieder an ein historisches Ereignis anlockt, aber diesmal steht eine Mutter-Tochter-Beziehung im Vordergrund. Ich stecke da mitten in den Recherchen, aber mehr kann und will ich noch nicht verraten.
 
MAIKEN NIELSEN: Unter uns die Welt 
Wunderlich, 448 Seiten, 19,95 Euro
als E-Book erhältlich
 
Am Donnerstag, dem 22. Juni um 19 Uhr liest Maiken Nielsen im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Hamm/Sieg im Rahmen der Westerwälder Literaturtage aus „Unter uns die Welt“.

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