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Interview: Tina Schraml (ts) | Fotos: Ofer Amir/WSOY Finland

Katja Kettu

Leben geben und nehmen

In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt. Katja Kettu lotet in ihrem Roman „Wildauge“ in schmerzhaft schöner, archaischer Sprache diese Extreme aus. Sie ist eine radikale neue Stimme, die von einem der dunkelsten Kapitel der finnischen Geschichte erzählt.

Im Sommer 1944 waren über 200 000 deutsche Gebirgsjäger in Lappland stationiert. In ihrem Roman erzählen Sie die Liebesgeschichte zwischen der finnischen Hebamme Wildauge und dem deutschen SS-Offizier Johannes. Warum haben Sie sich für diesen Stoff entschieden?

Ich interessiere mich für die Geschichte von Lappland, denn ich stamme selbst aus Rovaniemi. Gerade diese Zeit ist sehr interessant, denn im Fokus auf Lappland spiegelt sich auch das große Weltgeschehen. Deutschland war dabei, den Krieg zu verlieren, und Finnland kämpfte ums Überleben. Wir wechselten insgesamt dreimal die Seiten im Krieg. Meine Protagonisten haben keinen freien Willen in diesen grausamen und unübersichtlichen Kriegszeiten. Und in dieser Situation ist ihre Liebe sehr stark, aber auch sehr hoffnungslos.

Auffallend viele junge Autoren schreiben über Finnlands Kriegsgeschichte. Wie unterscheidet sich Ihr Buch von früheren Romanen zu diesem Thema?

Es gibt keine Helden in meinem Roman. Ich wollte Geschichten über Frauen, Kinder und Gefangene
schreiben. Meine Hauptfiguren denken am Anfang, dass sie unschuldig und selbstbestimmt sind. Wildauge hat als Hebamme die Kraft, Leben zu geben und zu nehmen. Sie hält sich für unantastbar und glaubt, dass sie im Auftrag Gottes handelt. Der tief traumatisierte Johannes ist Kriegsfotograf, er glaubt deshalb, die Ereignisse nur zu beobachten. Doch das ist am Ende natürlich nicht mehr möglich. Nach dem Krieg wurden die Frauen, die Beziehungen mit Deutschen hatten, als Sündenböcke benutzt. Sie litten ihr Leben lang dafür, dass sie einen Deutschen geliebt hatten.

Der Roman basiert auf Aufzeichnungen Ihrer Großmutter, wie nah ist die Geschichte an ihrem Schicksal?

Die Uroßmutter war Hebamme. Meine Großmutter hat an der Front in einer Kantine gearbeitet und musste auch mithelfen, die Verwundeten zu verpflegen. Mich hat an ihren Aufzeichnungen vor allem ihr unglaublich positiver Lebenswille beeindruckt und inspiriert.

Warum haben Sie eine Hebamme zu Ihrer Hauptfigur gemacht?

Für meine Geschichte brauchte ich eine starke Frau, die Zugang zu beiden Welten hat: der finnischen Dorfgesellschaft und den deutschen Lagern. Normalerweise waren die Frauen dieser Zeit in sehr enge Familienstrukturen eingebunden. Hebammen dagegen konnten sich frei bewegen, insbesondere in Lappland mussten sie sehr weite Wege zurücklegen, mit Skiern und Hunde- oder Rentierschlitten. Sie waren Hüterinnen des Wissens um die Heilkräfte der Natur. Oft waren sie deswegen auch ein wenig gefürchtet.

Wie sehr sind die Allianz mit den Nationalsozialisten und die Besatzungszeit in Finnland gesellschaftlich aufgearbeitet? 

Auch in Finnland hatten wir Kriegsverbrecherprozesse. Wir waren stolz, dass wir mit der Judenvernichtung nichts zu tun hatten, was aber auch daran lag, dass es bei uns nicht viele Juden gab. Unsere faschistische Einstellung war vor allem gegen die Russen gerichtet. Aber es wurde nicht darüber gesprochen, dass wir Juden und Flüchtlingen die Passagen durch unser Land verweigerten. Und wir hatten diese Gefangenenlager, in denen auch viele Frauen und Kinder interniert waren und unter Hunger und Krankheiten litten. In der Schule wollte ich in Geschichte einmal ein Referat über die Gefangenenlager in Karelien halten. Aber die Lehrer verboten es mir, man beschloss einfach, nicht darüber zu reden. Ich fand das total irrwitzig!

Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie mit dem Thema dieses Romanes anecken könnten?

Wenn ich ein gutes Buch schreiben will, darf ich mich nicht selbst zensieren.  Mir war wichtig, zu ergründen, wie Menschen reagieren, um zu überleben. Und zu zeigen, dass niemand in dieser Situation gewinnen kann. Es gibt in allen Gesellschaften Grundlagen des Zusammenlebens, aber der Krieg stellt alles auf den Kopf. Ich wusste, dass ich an einem Stoff arbeite, über den bisher nicht viel geschrieben wurde. Das fühlt sich an, wie in frischen Schnee zu treten und den ersten Fußabdruck zu machen. Dieses Gefühl liebe ich.

Welche Reaktionen haben Sie von Zeitzeugen zu Ihrem Buch bekommen?

Während der Arbeit an dem Roman war es sehr schwer, die Menschen zum Reden zu bringen. Aber als das Buch veröffentlich war, wollten plötzlich sehr viele mit mir über die Vergangenheit sprechen, weil das Thema  in aller Munde und dadurch „erlaubt“ war.

Der Roman ist aus drei Perspektiven geschrieben. Warum haben Sie sich für diese komplexe Erzählstruktur mit vielen Zeitsprüngen entschieden?

Zuerst habe ich versucht, die Geschichte nur aus Wildauges Sicht zu erzählen. Doch sie war so unglaublich stark, und ich spürte bald, dass auch Johannes zu Wort kommen muss. Wildauge macht Johannes zum Objekt ihrer Begierde und idealisiert ihn gleichzeitig. Ich wollte auch sein fragiles Innenleben sichtbar machen, sein Trauma thematisieren. In der Figur des Johannes versuche ich auch selbst, diesen Wahnsinn zu verstehen. Für die Briefform-Einschübe von „Brandgesicht“ entschied ich mich, weil ich an seiner Figur als Doppel- und Dreifachspion sichtbar machen wollte, wie viele verschiedene Interessen in Lappland zu dieser Zeit aufeinandertrafen.

Sie benutzen viele verschiedene Dialekte, haben neue Wörter erschaffen. Was bedeutet Ihnen Sprache, wie arbeiten Sie damit?

Es macht mir Spaß, mit Sprache zu spielen. Ich benutze alte Wörter und verändere ihre Bedeutung, diese Wörter und Dialekte kann man assoziativ verstehen. Natürlich ist das immer eine Art Paralleluniversum, aber eine pure und richtige Sprache gibt es nicht, Sprache ist immer im Wandel. Jetzt, da ich an meinem neuen Roman arbeite, der teilweise in der Sowjetunion spielt, kann ich keine Dialekte verwenden oder Wörter erfinden. Das macht es viel schwieriger, die Menschen zum Leben zu erwecken.

Ihr Roman kommt daher wie eine Naturgewalt, Sie beschreiben die Liebe und die Lagerrealität auf eine so intensive Art, dass es fast schon schmerzt.

Es war mir sehr wichtig, diese Geschichte so lebendig zu schreiben, dass der Leser mitfühlen kann und muss. Mein Stil ist sehr körperlich. Manche Leute haben gesagt, das Buch sei brutal. Ich musste beides, das Schöne wie das Hässliche, auf diese Art beschreiben. Aber nicht, um jemanden zu schockieren, sondern um das Leben so zu zeigen, wie es wirklich ist.

Katja Kettu: Wildauge. Übersetzt von Angela Plöger. Galiani, 416 Seiten, 19,99 Euro, als E-Book erhältlich

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