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Interview: Katharina Granzin (kgr) | Fotos: Kristinn Ingvarsson

Hallgrímur Helgason

„Natürlich bin ich Feminist!“

Hallgrímur Helgason, Jahrgang 1959, wurde international bekannt durch seinen Roman „101 Reykjavík“ und dessen Verfilmung. Zuletzt veröffentlichte der vielseitige Autor, der sich auch als bildender Künstler und als Stand-up-Comedian einen Namen gemacht hat, die Thrillerpersiflage „Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen“, in der ein kroatischer Auftragskiller die Identität eines isländischen Fernsehpredigers annimmt. In seinem aktuellen Roman „Eine Frau bei 1000°“ (Tropen Verlag, 19,95 Euro), arbeitet Helgason die europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts auf.
 
Ich war etwas überrascht, dass Ihr neuer Roman nach 400 Seiten schon zu Ende war. Es gibt so viele Geschichten darin, die noch hätten weitergehen können.

Ja, all das zusammenzuhalten, war gar nicht einfach. Es war so, als würde ich nach fünfzig Seiten immer wieder ein neues Buch anfangen. Der Roman spielt ja zum Teil auf einer abgelegenen Inselgruppe in West-Island, dann wieder in Kopenhagen, in Deutschland während des Krieges, in Argentinien nach dem Krieg, im Island der siebziger Jahre, und natürlich in der Gegenwart, in der diese alte Frau in ihrer Garage liegt.
 
Wie sind Sie auf diese außergewöhnliche Hauptfigur gekommen?

Dazu gibt es eine lustige Geschichte. Meine Ex-Frau ist Politikerin, bei den Sozialdemokraten, und als einmal Wahlkampf war, bat sie mich um Mithilfe. In der Parteizentrale gaben sie mir eine Liste mit Telefonnummern von Menschen irgendwo in Reykjavík, die ich anrufen und dazu bringen sollte, die Sozialdemokraten zu wählen. Also rief ich ein paar Nummern an; und eine davon gehörte einer alten Dame, die in einer Garage wohnte. Sie mochte die linken Parteien nicht besonders, und noch weniger ihre Politiker. Aber sie war witzig und klug, und wir unterhielten uns sicher eine Stunde lang. Dass es um irgendwelche Wahlen ging, hatte ich total vergessen, ich fand sie einfach unheimlich interessant. Ich wollte sie gern treffen und schrieb mir ihren Namen auf. Sie erzählte mir, dass sie seit zehn Jahren in einer Garage lebte, einsam in ihrem Bett mit ihrem Computer, immer im Internet unterwegs, in Kontakt mit Leuten überall auf der Welt.
 
Wie alt war die Dame?

Achtzig. Es war wirklich ziemlich erstaunlich. Ein Jahr später wollte ich mich aufmachen, um sie endlich zu treffen. Aber ich war zu spät gekommen, in der Zwischenzeit war sie gestorben. Ich begann über ihr Leben zu recherchieren und fand heraus, dass sie zwanzig Jahre zuvor eine Autobiografie veröffentlicht hatte, dass sie die Enkelin des ersten isländischen Präsidenten war, und dass ihr Vater auf der Seite der Nazis im Krieg gekämpft hatte.
 
Das war wirklich so? Das schien alles so unwahrscheinlich im Roman!

Ja, es gab viele verrückte Elemente in dieser Geschichte. Nach der Recherche hatte ich viel mehr Material gefunden, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich beschloss, über diese alte Dame und ihre Lebensgeschichte einen Roman zu schreiben. Natürlich habe ich sehr viel verändert, aber trotzdem fürchte ich, dass ihre Familie das Buch nicht mögen wird; es erscheint auch in Island in diesem Herbst. Aber es ist eine Geschichte, die erzählt werden muss.
 
Trotz der realen Elemente hat man beim Lesen das Gefühl, dieser einen Person stößt mehr zu, als in einem Leben realistischerweise passieren kann. Ist das Schicksal der Herra Björnsson nicht auch sehr metaphorisch aufgeladen?

Ja, in gewisser Weise spiegelt sich darin auch das Schicksal Islands.
 
Die Rahmenhandlung spielt in der Zeit direkt vor der Bankenkrise und erzählt davon, wie Söhne und Schwiegertöchter der alten Frau all ihr Geld nehmen. Ist es das, wozu Island sich entwickelt hat – von einem unschuldigen kleinen Land hin zu einer gierigen Gesellschaft von Bankern und Brokern?

Es war so, bis zum Crash. Die Leute hatten sich völlig selbst verloren in ihrer Gier, immer mehr Geld zu machen. So etwas gab es vorher nie. Plötzlich hatten wir in Island vierzig Milliardäre, wo es vorher vielleicht einen Millionär gegeben hatte. Diese Leute benahmen sich wie saudische Fürsten. Nach dem Crash kamen sie alle wieder auf den Boden zurück, und die Dinge wurden endlich wieder normaler.
 
Neben dieser gesellschaftskritischen Komponente liegt außerdem auch eine feministische Lesart des Romans nahe. Das scheint etwas Neues in Ihrem Werk zu sein, auch das Schreiben aus weiblicher Perspektive.

Nicht ganz; meine beiden ersten Bücher handelten von Frauen, aber sie sind nicht ins Deutsche übersetzt. – Ja, es stimmt schon, dass dieser neue Roman feministisch gelesen werden kann, schon weil die Hauptfigur eine Frau ist. Es war eine große Herausforderung für mich, beim Schreiben zu einer alten Dame zu werden. Ich hatte viel Spaß dabei, ihre Rolle anzunehmen und mich über Männer lustig zu machen. Und ihr die Macht zu geben. In Romanen, die von Männern geschrieben sind, ist der Blick auf die Frauen, die darin vorkommen, oft ein bewertender Blick von außen. Ich fand es interessant, das umzudrehen.
 
Sind Sie Feminist?

Ja, natürlich! Der Feminismus ist die spannendste gesellschaftliche Frage in unserem Teil der Welt. Es ist ein bisschen wie ein Krieg, der die ganze Zeit schwelt. In Island haben wir ziemlich radikale feministische Gruppen, die sehr präsent sind in der Öffentlichkeit. Und das ist nötig, auch wenn sich in mancher Hinsicht viel getan hat. Wir haben mit Jóhanna Sigurðardóttir sogar eine Frau als Ministerpräsidentin, aber die „men’s society“ stirbt ja nicht über Nacht. Gerade im Sommer, wenn überall in Island Musikfestivals stattfinden, gibt es immer wieder Probleme mit Vergewaltigungen. Und es gibt ganz junge Männer, die über Prostitution sprechen, als wäre das eine ganz tolle Sache. – Aber es betrifft ja auch das tägliche Leben. Man muss lernen, anders zu denken, was manchmal wirklich nicht einfach ist. Als Mann findet man es normal, dass Frauen nicht genauso einflussreich sind wie Männer. Ich bin ein 52 Jahre alter, weißer, westlicher Mann. Und ich versuche, Feminist zu sein. Aber ich gehe noch bei meiner Freundin in die Lehre. Sie muss mich manchmal daran erinnern, die Dinge nicht nur aus männlicher Perspektive zu sehen, sondern zu versuchen, mich in die Position einer Frau zu versetzen.
 
Werden Sie eigentlich oft eingeladen zu Talkshows oder Podiumsdiskussionen über politische Fragen?

Ja, zu allem Möglichen. Ich bin dieser Dinge inzwischen etwas müde. Vor der Bankenkrise habe ich jede Woche Artikel geschrieben und die Regierung kritisiert. Ich habe meinen Roman „Rokland“ geschrieben über die Welle des Materialismus, die über Island geschwappt ist. Ich war eine der wenigen kritischen Stimmen. Dann kam die Krise, und auf einmal haben alle sich aufgeregt. Damit hatte sich meine öffentliche Rolle als Kritiker der Verhältnisse mehr oder weniger erledigt.
 
Island ist ja Beitrittskandidat für die EU. Wie steht die öffentliche Meinung dazu?

Etwa fifty-fifty. Ich fände es gut. Wir sind zu klein, um allein zu sein. Wir müssen internationaler denken, nicht immer nur versuchen, Island gegen Einflüsse von außen zu schützen.
 
Auf Island pflegt man ja auch den sprachlichen Purismus sehr …

Das ist etwas anderes. Sprache ist etwas Wertvolles, das wir nähren sollten, statt es durch Fremdeinflüsse zu ruinieren. Fremde Ideen sind eine gute Sache, aber wir können sie ruhig ins Isländische übersetzen.
 
Geht das denn immer? Wie werden zum Beispiel die modernen technischen Fremdwörter übersetzt?

„Computer“ zum Beispiel heißt tölva, zusammengesetzt aus völva, was soviel bedeutet wie „Wahrsager“, und tölw für „Zahlen“. Natürlich klappt das in der Praxis nicht immer so. Viele Leute sagen etwa downloading statt niðurhal. Und bei den italienischen Fremdwörtern machen wir gar nicht erst den Versuch, sie zu übersetzen; vielleicht, weil wir das Italienische sehr wertschätzen. Pizza, Cappuccino, Espresso – das ist alles gutes Isländisch.

Hallgrímur Helgason: Eine Frau bei 1000°. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. Tropen, 400 Seiten, 19,95 Euro

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