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Reportage: Christian Bärmann (bär)

Handbuch des Glücks

Henry David Thoreau lebte zwei Jahre am Walden Pond, auf der Suche nach dem wirklichen Leben. BÜCHER tat es ihm gleich. Für zwei Stunden.

„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“ So steht es – in englischer Sprache – weiß auf Holz, auf einem Schild wenige Meter entfernt von der Stelle, an der sich Henry David Thoreau 1845 für zwei Jahre in den Wald zurückgezogen hatte. Es bedarf nicht viel Fantasie, um genau an dieser Stelle eine Zeitreise anzutreten. Hier am Walden Pond, dem See, der Thoreaus bekanntestem Werk den Namen gab, schirmt der dichte Wald die Geräusche von der Straße ab, die nach Concord im US-Bundesstaat Massachusetts führt. „Das Haus lag aber so tief, dass das eine halbe Meile entfernte jenseitige Ufer, das wie alles Übrige bewaltet war, meinen Horizont begrenzte“, beschreibt Thoreau in „Walden oder Leben in den Wäldern“ den Blick, den jeder Besucher auch heute noch nachvollziehen kann.

So tief lag das Haus, dass heute auch die Schilder, die auf das Fehlen von Rettungsschwimmern hinweisen, von dort aus nicht sichtbar sind und somit der Illusion keinen Abbruch tun. 20 Meilen nordwestlich von Boston gelegen, ist die „Walden Pond State Reservation“ ein Kleinod für Entspannung und Ruhe suchende Großstädter und Touristen (insgesamt rund 600.000 pro Jahr) – die für eine Parkgebühr von fünf Dollar entweder auf den Spuren des Philosophen wandeln, im See schwimmen oder darauf paddeln können. Direkt am Parkplatz befindet sich ein Nachbau jener Holzhütte, die Henry David Thoreau für seinen zeitweisen Ausstieg eigenhändig gebaut hat. Ein Mahnmal einfachen Lebens. Ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch und ein Ofen. Und ein Gästebuch, in dem Besucher aus aller Welt ihre Begeisterung für den simplen und unkonventionellen Lebensstil des großen amerikanischen Denkers mit Attributen wie „Awesome!“ kundtun. Sage noch einer, Thoreau wäre nicht mehr zeitgemäß.

Weder Knastbruder noch Eremit

Es gebe einen alten Witz, nach dem die meisten Menschen Henry David Thoreau als den Mann kennen, der die eine Hälfte seines Lebens am Walden Pond und die andere Hälfte im Knast verbracht habe, erzählt der Mann hinterm Tresen des unvermeidlichen Souvenirgeschäfts nahe der Hütte und lacht. Denn obwohl der Harvard-Absolvent, der auch als Naturalist, Historiker und Transzendentalist bezeichnet wird, nur zwei Jahre an diesem See und gerade mal eine Nacht im Gefängnis war (weil er sich 1846 geweigert hatte, einer Regierung Steuern zu zahlen, die die Sklaverei unterstütze), so verbinden die meisten Menschen den Autor Thoreau offenkundig mit seinen wichtigsten Werken, „Walden“ und „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (zu hören bei Diogenes als brillante Lesung von Helmut Qualtinger).

Geboren in Concord, Massachusetts, am 12. Juli 1817, entwickelte er durch seinen Bruder John, der ein Hobby-Ornithologe war, schon früh ein Interesse für die Natur. Später lernte er Ralph Waldo Emerson kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband und der ihn mit Autoren und nonkonformistischen Denkern, darunter auch Nathaniel Hawthorne, bekannt machte. Als Thoreau erklärte, er wolle in den Wäldern leben und eine Karriere als Autor einschlagen, bot ihm Emerson ein gerade von ihm gekauftes Waldgrundstück an. Am 4. Juli 1845 bezog er seine Hütte im Wald, die nur aus einem Raum bestand, führte dort allerdings kein Eremitendasein, sondern ging häufig nach Concorde oder lud sich Freunde in die Waldhütte ein.  
 
Thoreaus Schriften sind verblüffend aktuell

„Walden“, so steht es auf der Rückseite der deutschen Fassung, sei ein „Handbuch des Glücks“. Thoreau tritt dabei dem „wirklichen Leben“ im Zuge eines Experiments näher und beschreibt in kunstvollen und nicht immer leicht zu verstehenden Worten die Reise zum eigenen Ich, die Suche nach wirklicher Freiheit. Er gibt nicht viele Antworten, kommt aber zu dem Schluss, dass man die größeren Zusammenhänge des Lebens und die Gesellschaft nur durch Naturverständnis und innere Einkehr verstehen könne: „Wir können gar nicht genug Natur haben“, erklärt Thoreau, der die Natur für ihn als das beschreibt, was andere Menschen als Religion ansehen. „Thoreau machte den Walden Pond zu einem Mikrokosmos“, erklärt ein Park Ranger, der einer Touristengruppe mit teils deutlich einfacheren Worten das „Handbuch des Glücks“ näherbringt. Denn die Lektüre von „Walden“ ist zwar erhellend und der Inhalt in Teilen auch mehr als 150 Jahre später verblüffend aktuell, aber durch die Detaildichte und zeitweise langen und vor Metaphern strotzenden Sätzen auch keine einfache (Anm. d. Red.: Für den leichteren Zugang gibt es ab September vom Knesebeck Verlag eine Graphic Novel, „Das reine Leben“. Thoreau in Bildern). Gleiches gilt im Übrigen auch für sein Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, in dem Thoreau nicht zum Anarchismus aufruft, sondern laut „Der Spiegel“ die „Kernfragen der Demokratie stellt“ und damit Bürgerrechtler wie Gandhi und Martin Luther King Jr. beeinflusste. Sein politisches Verantwortungsbewusstsein wird in Sätzen wie „Wenn das Gesetz dich zum Arm des Unrechts macht, dann, sage ich, brich das Gesetz.“ oder „Muss ein Bürger zu irgendeinem Zeitpunkt sein Gewissen für den Gesetzgeber aufgeben?“ deutlich.
 
„Um frei zu sein, muss man Bindungen aufgeben. Geld, Ruhm und andere Vorteile müssen gleichgültig werden, und schließlich ist es die Gleichgültigkeit selbst (z.B. für Menschen), die man hinter sich lässt“, schreibt Walter E. Richartz im Vorwort zu „Walden“ (Diogenes). Wirtschaftlich hat es Thoreau schon mal vorgelebt, denn die beiden Jahre in der Hütte am See endeten für ihn mit einem Defizit von 25 Dollar. Wer heute dem Geiste Thoreaus am Walden Pond näher sein möchte, muss glücklicherweise weniger investieren: Es reichen fünf Dollar Parkgebühr.

Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. Übersetzt von Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Diogenes, 352 Seiten, 11,90 Euro

Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Mit Gary Farmer, Dagmar Manzel u. a., Hörbuch Hamburg, Hörspiel, 1 CD, 12,99 Euro

Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Übersetzt von Walter E. Richartz. Diogenes, 160 Seiten, 14,90 Euro

Henry David Thoreau: Wilde Früchte. Übersetzt von Uda Strätling. Manesse, 320 Seiten, 99 Euro

Henry David Thoreau: Die Wildnis von Maine. Übersetzt von Alexander Pechmann Jung und Jung, 160 Seiten, 19,80 Euro

Maximilien Le Roy, A. Dan: Henry David Thoreau. Das reine Leben. Knesebeck, 88 Seiten, 22 Euro

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