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Reportage: Meike Dannenberg (md)

Shaun Tan

Postkarten aus einem fremden Universum

Erst bekam er einen Oscar für den Animationsfilm „Die Fundsache“, dann den „Nobelpreis“ für Kinderliteratur, den Astrid Lindgren Memorial Award. BÜCHER traf den australischen Zeichenkünstler Shaun Tan auf seiner Lesung in Hamburg.

Die Traube Menschen, die sich um den kleinen Tisch schart, wird nicht kleiner. Mit der Konzentration, mit der Shaun Tan jedes einzelne Buch signiert, wird das Warten zur Andacht. Erst vor einigen Stunden ist er aus Stockholm angereist, wo er den wichtigsten Kinderbuchpreis der Welt entgegen nahm, dann erzählte er über eine Stunde lang über sein Leben und sein Werk, redete mit der Presse und nun malt er zu später Stunde in jedes der Bücher, die ihm vorgelegt werden, eine kleine Figur, einige seltsame Schriftzeichen und tupft mit dem Finger auf das mitgebrachte rote Stempelkissen, dann auf das Papier. Er hat ein Lächeln im Mundwinkel, und obwohl er sichtlich müde ist, wird jede der rund 100 Widmungen ein liebevolles Unikat. Für die deutschen Namen hat er Schmierpapier mitgebracht. Er ist Perfektionist, fast liebevoll geht er mit dem Zeichenstift um und er hat Humor. Diese Eigenschaften strahlen durch sein Werk, sorgen für seinen aktuellen Ruhm und die vielen leuchtenden Gesichter im Hamburger Abaton-Kino.

Dabei sieht Shaun Tan sich keineswegs als besonders an, die Oscarverleihung hat er sich bis heute nicht angeschaut. „Ich bin nicht so interessiert an mir selbst,“ sagt er. Trotzdem war er es, den er immer wieder für sein umfangreichstes Werk „Ein neues Land“ porträtierte. Er schoss unzählige Fotos von sich, erzählt er. Außerdem von Statisten und Freunden, um für die realistischen Zeichnungen eine Vorlage zu haben. „Ich dachte immer, die Nachbarn müssten mich für verrückt halten, weil ich mich ständig im Garten selbst fotografierte. Ich hätte ihnen gerne zugerufen: Hey, ich bin Künstler!“ Von den statischen Fotos ging Shaun Tan dann dazu über, Tausende Videoaufnahmen zu machen, deren Standbilder er dann für die Zeichnungen nutzte, angereichert mit fantastischen Elementen.

Das Misstrauen des Verlegers

In der Graphic Novel „Ein neues Land“ verlässt ein Mann seine Familie sowie seine düstere Umgebung und fährt mit dem Schiff in die Fremde. Hier sprechen die Menschen seine Sprache nicht, sie essen seltsame Früchte, fremdartig anmutende Geschöpfe kreuzen seinen Weg und die Dinge laufen irgendwie anders. Alles ist fremd und doch vertraut. Es ist die Geschichte eines Emigranten, voller Hoffnung, aber auch von Ernüchterung und einem Neubeginn. Die Bilder kommen ohne eine Zeile Text aus. „Wir müssen uns noch hineinversetzen können,“ sagt Shaun Tan. „Ich wollte die Fremdartigkeit deutlich machen, den Leser aber nicht irritieren. Ich war nervös, wie die Skurrilität der Welt bei den Leuten ankommen würde, aber es ist im Prinzip wie bei einem Frosch, der in heißes Wasser gesetzt wird. Er springt raus, aber wenn man das Wasser langsam erhitzt, bleibt er drin. Ich habe die fantastischen Elemente langsam gesteigert. Ich wollte nicht, dass jemand denkt: Diese Welt ist völlig verrückt! Sie sollte akzeptiert werden.“ Es ist eine Einwanderergeschichte, wie sie auch Shaun Tans Vater, der von Malaysia nach Australien kam, erlebte. Es ist eine Geschichte, wie sie die unzähligen Emigranten Shaun Tan erzählten, die er für seine Recherche interviewte. Er grinst, als er erzählt, dass er ursprünglich nur 32 Seiten zeichnen wollte. Der Entwurf enthielt zudem Sätze in gebrochenem Englisch. Shaun Tan recherchierte intensiv und stellte schließlich fest, dass auch 62 Seiten für seine Idee nicht reichen würden, dann auch 92 nicht. „Mein Verleger wurde immer misstrauischer,“ sagt er. „Ein halbes Jahr arbeitete ich an einfachen Figuren mit einfachen Gesichtszügen, die gut Emotionen transportieren können. Aber es klappte nicht.“ Er schüttelt den Kopf. „Zwanzig Seiten und ein halbes Jahr später begriff ich dann, dass ich alles realistisch mit Bleistift zeichnen muss. Dass es alles aussehen muss wie alte Postkarten aus einem fremden Universum. Es fühlte sich an wie ein Alptraum, als mir klarwurde, wie viel Arbeit das sein würde!“ lacht er. „Aber ich wusste auch, dass die Idee eine gezeichnete Migrationsgeschichte in eine Fantasiewelt zu machen, und es richtig zu machen, so gut war, dass jemand dieses Buch zeichnen musste. Und das würde anscheinend ich sein.“ Sechs Jahre hat er dann, mit Unterbrechungen, um zum Beispiel als Zeichner für die Vorbereitung des Pixar Filmes WALL-E depressive Roboter und den „Trash-Planeten“ zu zeichnen, an dem Buch gearbeitet, 128 Seiten sind es geworden. Erst sollte es 2003 fertig werden, 2006 war es dann soweit. Eine Geschichte, die den Betrachter zu Tränen rühren kann und eine Dokumentation mehr als eine Erzählung. Dabei bleibt alles so einfach wie möglich und so komplex wie nötig. „Wenn ein Bild auch für ein Kind funktioniert, dann ist es vermutlich ein gutes Bild,“ sagt Shaun Tan.

Ein ahornblattförmiger Austauschschüler

Aus der Sicht eines Kindes ist auch die neue deutsche Veröffentlichung „Eric“ erzählt. Der kleine Austauschschüler Eric, der in einer Kaffeetasse schläft und sich für seltsame kleine Dinge auf dem Boden interessiert, gibt seiner Gastfamilie Rätsel auf: Fühlt er sich wirklich wohl? Ist das winzige ahornblattförmige Wesen glücklich bei ihnen? Sein Gastbruder ist zunächst enttäuscht von dessen Fremdartigkeit und von seinen Fragen, die er nicht erwartet hatte, aber er lernt, damit umzugehen. „Das ist was Kulturelles“ erklärt seine Mutter. Das Geschenk, das ihnen Eric schließlich dalässt, ist über jeden Zweifel erhaben.

„Eric“ ist eine Auskoppelung aus der Anthologie: „Geschichten aus der Vorstadt des Universums“, einer Reihe von liebevoll unterschiedlich illustrierten Geschichten, in denen Shaun Tan auch das ganze Spektrum seiner Stile darstellt. „Es beginnt immer mit einem Bleistift,“ sagt er. Aber dann kommen Tusche, Ölfarben, Kreide, Wachsmaler und alle erdenklichen Materialien hinzu, jede von ihnen beherrscht er meisterlich. Die Geschichten handeln von Wasserbüffeln, die mit dem Huf den Weg weisen, von der Kante, an der die Welt zu Ende ist oder von einem Dugong im Vorgarten. Sie handeln von kleinen Wundern und immer wieder von der Frage, was wir sehen könnten, wenn wir richtig hinschauen würden. Auch „Die Fundsache“ ist ein seltsames lebendes Objekt, „The lost Thing“ wie der englische Titel lautet, das nur sichtbar ist für denjenigen, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Die Geschichte „Wachsam, aber nicht beunruhigt“ aus der Anthologie beginnt mit dem Satz: „Komisch, dass man jetzt, wo jeder Haushalt seine eigene Interkontinentalrakete hat, kaum noch darüber nachdenkt.“ Shaun Tans Geschichten rufen dazu auf, die kleinen Brüche der Welt bewusst wahrzunehmen und zu einer kindlichen Betrachtung zurückzukehren. Bücher sowie Film spielen mit den Grenzen zwischen Fantasie und Realität und ziehen den Betrachter und Leser in sein wundervoll verspieltes und berührendes Universum hinein. Die filigrane Ausgestaltung der Bilder und die absolut liebenswerten Figuren wecken Zärtlichkeit. Eine große Kunst!

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