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Die Tiere sind unruhig

Manchmal stellt die Zeit sich eine Frage. In diesem Jahr, einem Wahljahr, in dem wir Europa zum ersten Mal seit Langem als zerbrechlich erleben und in dem wir mit neuen Schutzsuchenden und alter Missgunst zurechtkommen müssen, ist das wohl: Was macht ein Zuhause aus? Und in was für einem Land leben wir eigentlich? 

Noch vor 100 Jahren hätten die meisten auf die Frage nach ihrem Zuhause ohne zu zögern ihren Geburtsort genannt. Die Antwort ist komplizierter geworden. Wir ziehen oft um, aus Neigung oder Zwang, der Arbeit, der Liebe, der Freiheit nach, über den gesamten Planeten. Aber das ist längst nicht alles. „Klassische Beziehungsmuster, die lange allgemeingültig schienen, haben an Bedeutung verloren. Die voranschreitende Globalisierung der Welt geht für manche mit einem Zuwachs an Lebensmöglichkeiten einher, für andere mit Gefühlen des Selbstverlusts. Auch die wachsende Spaltung der Gesellschaft und der strukturelle Wandel von Politik und Öffentlichkeit führen zu einer tiefen Verunsicherung. Wir leben in Zeiten des Umbruchs“, stellt Daniel Schreiber fest. Es ist bezeichnend, dass er sich die Frage nach dem Zuhause in einer Lebenskrise stellt.
 
WIR SEHEN DIE WELT MIT ANDEREN AUGEN
 
Er selbst wurde in eine Fremde hineingeboren, 1977 als schwules Kind in ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, eine Bedrohung für das System. Als femininer Junge litt Schreiber schon im Kindergarten unter der auf Konformität ausgelegten Erziehung, unter gut gemeinten Versuchen, ihn durch sozialen Druck „normal“ zu machen ebenso wie unter offenem Sadismus. „Die Zuhauselosigkeit von Menschen, die stigmatisiert und marginalisiert werden, gräbt sich in die tiefsten Schichten des Selbst ein.“ Das Gefühl, akzeptiert zu sein, erlebte er zum ersten Mal als junger Mann in New York.
 
Schreibers Ausgangspunkt ist der persönlichste, den man sich denken kann: der eigene Schmerz. Sein Essay ist eine philosophische Betrachtung von Heimat und Entwurzelung und die Geschichte einer Suche. „Wenn Berlin ein Liebhaber wäre“, schreibt er über seinen jetzigen Wohnort, „dann einer, den ich nie wollte – etwas aufreibend und ein wenig beschädigt, nicht besonders einfühlsam, hübsch oder zuverlässig. Ganz allmählich aber begann ich zu ahnen, dass dieser Liebhaber, realistisch gesehen, alles war, was ich hatte. Und dass er, je länger ich mit ihm lebte, andere Seiten offenbarte, Seiten, die schon immer da gewesen waren, die ich aber nicht hatte sehen können oder wollen.“
 
EIN STURM ZIEHT AUF
 
Aus Berlin brechen Dirk Gieselmann und Martin Smailovic auf, um die Angst zu kartografieren. Seinem Fünfjährigen erklärt Gieselmann das so: „Deutschland hat sich verändert, (...) es ist nicht mehr so, wie es war, als wir so alt waren wie du, und wir wollen wissen, warum das so ist. / Ist es jetzt schöner oder nicht mehr so schön, fragt mein Sohn. / Ich weiß es nicht, sage ich, wir müssen mal nachschauen. / Ja, sagt mein Sohn, schaut mal nach (...). Nicht, dass es noch jemand kaputtgemacht hat.“
 
In drei Monaten besuchen der Autor und der Fotograf rund 100 Orte. Sie sprechen mit einem Dresdner Imam, vor dessen Tür jemand einen Sprengsatz zündete, mit einem Mann und einer Frau, die den Anschlag auf das Pariser Bataclan überlebten und in diesem Moment beschlossen zu heiraten. Mit einem Jungen aus Afghanistan, der bis nach Hamburg floh, zu Fuß, mit dem Schlauchboot, mit dem Zug, auf der Achse eines Lastwagens, und nicht mehr weiter weiß. Mit Überlebenden des Bosnienkrieges. Mit besorgten Bürgern. Zwischen den Interviews, aus denen längere Texte entstanden sind, immer wieder Gesprächsfetzen und Zufallsbeobachtungen, Sätze aus dem Fernsehen und von der Autobahnraststätte. „Ein Finanzbeamter hat ein Flüchtlingsheim angezündet. Er habe Angst um das Schöne gehabt und dass die Idylle beeinträchtigt wird, sagt er beim Prozess vorm Lübecker Landgericht aus. Wer erklärt denen, wann der Müll rausgestellt werden muss, wenn die kein Deutsch verstehen?“
 
Und, ist Deutschland noch schön? „Die Schönheit hat Brüche bekommen“, sagt Gieselmann. „Es ist so eine Art Doppelbelichtung, die wir beobachtet haben. In die schöne Normalität, in den banalen Alltag schiebt sich immer wieder der Ausnahmezustand.“ Mit doppelt belichteten Schwarzweißfotografien hat Martin Smailovic das Buch illustriert. Die Leichen, die man auf einem Foto zu erkennen glaubt, stellen sich erst auf den zweiten Blick als Partygäste heraus, die in der Sonne liegen. „Wir sind aus unserer fetten Ruhe erweckt worden“, sagt der Sohn des NS-Generalgouverneurs Hans Frank, des „Schlächters von Polen“. „Die Menschen, die hierher fliehen, erinnern uns an die Armut und die Not, die in der Welt existieren. (...) Und nun wird sichtbar, was nur leidlich verborgen war: die Rohheit, die Brutalität, der Rassismus, die Mitleidlosigkeit.“
 
ICH HAB'S GESEHEN
 
Auch in Lucas Vogelsangs „Heimaterde“ geht es um Verwerfungen, Brüche, Konflikte. Sein Ansatz aber ist ein ganz anderer. Im Berliner Stadtteil Wedding wohnt der Autor in einem Haus, dessen Klingelschild sich liest wie ein Tableau einer Vollversammlung der Vereinten Nationen. Oder wie ein Debattenbeitrag zur Integration. Oder wie der Kader einer zukünftigen Nationalmannschaft. Von hier aus reist er quer durch Deutschland und findet Geschichten darüber, wie das Zusammenleben funktioniert. Oder scheitert. Etwa die von Ahmet Kurt, dem Jesiden aus der Türkei, der in Pforzheim eines der schwäbischsten Restaurants überhaupt führt, und der Geflüchteten dabei hilft, anzukommen. Und die des Spätaussiedlers Waldemar Birkle, der als Jugendlicher nach Deutschland kam und im Pforzheimer Stadtteil Haidach, dem „Russenhügel“, 54,2 Prozent der Stimmen für die AfD holte, „aus Sicht der Parteispitze ein Ergebnis von nahezu autokratischer Höhe und deshalb natürlich obszöner Schönheit. Dürfte diese Zahl Tweed tragen, Alexander Gauland würde sie wahrscheinlich heiraten.“ Vogelsang betrachtet politische Phänomene, die auf den ersten Blick widersinnig erscheinen und beleuchtet die zugrunde liegenden Mechanismen, ohne je seine Protagonisten aus dem Blick zu verlieren.
 
Daniel Schreiber, der „Zuhause“ im Abstrakten betrachtet, würde hier hemmungslos konkrete Beispiele finden: „Heimat ist dort, wo ich ein Feuer machen kann“, sagt Kai Eiker- mann, der in Ghana aufgewachsen und von zwei Brüdern der weißere ist. „Unsere Heimat ist Geschichte“, sagt Ericsson Ecke, der schwarze Bruder. Er stammt aus der DDR. Und Ismail Öner, Kurde, Sozialarbeiter aus Spandau: „Heimat ist der Ort, der nicht egal ist. Der Park, in dem du Müll sammelst. Das Wasser, aus dem du den Unrat ziehst und manchmal auch eine Leiche. Die Luft, die du so lange atmest, bis sie sauber ist.“ 
 
DIE SUMME DER EINZELNEN TEILE
 
Wer einem Freund von außerhalb erklären möchte, was für ein Land das ist, dieses Deutschland, dem sei Gerhard Waldherrs „Deutschkunde“ empfohlen, eine Sammlung von 26 Reportagen, die er in den letzten neun Jahren für die brand eins verfasst hat. Sie tragen Überschriften wie „Adel“, „Schweine“, „Gefängnis“ oder „Generation Y“ und er hat sie ausgewählt, weil sie überzeitlich sind, „oft auch skurril, grotesk“. 
 
In „Bier“ erzählt er die Geschichte einer Brauerfamilie, deren Erbfolge der Zweite Weltkrieg durcheinandergebracht hat, sodass nun zwei Brauereien gleichen Namens nach dem gleichen Grundrezept Bier herstellen, eine in Mühldorf, eine in Haag. Es gibt ein Porträt von Uli Hoeneß, in dem „der Macher, der Erfolgsmensch, der Provokateur, Protagonist und Visionär des deutschen Fußballs“, wie er sich 2011, auf der Höhe seiner Macht, in einem Interview darstellt, anredet gegen all das, was man nach seiner Verurteilung wegen Steuerhinterziehung über ihn weiß. Am Ende jedes Texts ein paar signifikante Zahlen: „Durchschnittlicher jährlicher Bierkonsum in Deutschland 2014, in Liter: 99,5“ oder „Anzahl Kirchenaustritte von Katholiken in Deutschland 2014, dem Jahr, in dem Papst Franziskus den Amtsverzicht des Lim- burger Bischofs Franz-Peter Tebarz-van Elst akzeptierte: 217700“.
 
Dass das Thema Heimat gerade jetzt wichtig wird, liegt an unserem sich ständig aktualisierenden Weltwissen, meint Waldherr, dem globalen Chaos in unseren Köpfen: „Ein Großteil unseres Lebens wird von Debatten bestimmt, mit denen wir nichts zu tun haben. Man versucht instinktiv, sich an etwas festzuhalten.“
 
Wie schafft man sich ein Zuhause in einer solchen Welt? Daniel Schreiber zitiert den britischen Psychoanalytiker Donald W. Winnicott, der in den 1950er-Jahren versuchte, den Druck von jungen Eltern zu nehmen, indem er ihnen versicherte, dass es nur darum gehen könne, dass sie als Eltern „gut genug“ seien. „Vielleicht ist alles, was man für ein Zuhause braucht, die Bereitschaft, für sich selbst die Rolle der winnicottschen Eltern zu übernehmen, die gut genug sind. Vielleicht sind wir tatsächlich viel öfter, als wir es glauben, schon da, wo wir sein müssen.“
 

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