Comics als Spiegel des Daseins
Wenn Philosophie auf Comic trifft, wird das manchmal belächelt – zu bunt, zu leicht, zu kindlich scheint das Medium, als dass man ihm zutrauen würde, tief in die menschliche Existenz zu blicken. Doch was passiert, wenn sich ein scharfsinniger Geist wie Martin Meyer Hergés Tim und Struppi mit der Ernsthaftigkeit eines Denkers nähert, der weiß, dass auch in den kleinsten Dingen der Weltentwurf liegt? In seiner Menschenkunde versammelt Meyer 33 Situationen aus der berühmten frankobelgischen Comic-Serie, die so archetypisch sind, dass sie sich mühelos auf das Leben übertragen lassen. Und genau das tut er, aus einer Haltung der staunenden Nähe heraus entfaltet er, was uns bewegt – und warum.
Von Verfolgungsjagden und existenziellen Fragen
Wie kann eine Szene aus “Die Juwelen der Sängerin” plötzlich zu einer Meditation über Glück werden? Was verbindet eine Slapstick-Verfolgungsjagd mit dem existenziellen Gefühl
der Entfremdung? Wie viel Geduld spricht aus der schier endlosen Irrfahrt im U-Boot – und wie sehr spiegelt sie unseren modernen Zustand des Wartens wider, des Wartens auf Sinn,
auf Verbindung, auf ein Ankommen? Meyers Essaybuch ist eine Einladung, die eigene Alltagswahrnehmung zu schärfen. Die Comics dienen als Sprungbrett, nicht als Ausgangspunkt. Sie sind der bildhafte Anlass für gedankliche Erkundungen, wie sie nur jemand unternimmt, der mit Literatur, Philosophie und Feuilleton groß geworden ist – und der weiß, dass alles Denken am Konkreten beginnt.
Philosophie aus dem Panel
Die Texte in “Menschenkunde” sind knapp, fast aphoristisch. Jeder Gedanke steht für sich – und doch fügen sich die 33 Kapitel zu einem Gesamtbild. Es entsteht eine Philosophie
des Gewöhnlichen, gespeist aus dem Humor des Alltags und dem Wissen um seine Tragik. Denn auch das ist Meyers Stärke: Er unterschätzt nicht die leisen Momente. Wenn Kapitän Haddock flucht, geht es um den Verlust von Kontrolle in einer Welt, die sich immer schneller dreht. Wenn Professor Bienlein wieder einmal missverstanden wird, zeigt sich darin ein ganzer Diskurs über Kommunikation und Einsamkeit.
Mit feinem Gespür für Sprache tastet sich Meyer durch die menschliche Grundausstattung: Hoffnung, Frust, Zögern, Sehnsucht, Neugier. Der altgediente Journalist – über Jahrzehnte hinweg prägendes Gesicht des Feuilletons der Neuen Zürcher Zeitung – schreibt tastend, fragend.
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