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litCOLOGNE 2013: Herta Müller dichtet mit der Schere

Von Melanie Schippling

„Milch ist der Zwilling von Teer
in weiß oder schwarz kann man lügen
Mutter schiebt ein Bonbon im Mund hin und her
Vater telefoniert mit den Fliegen“

Diese und weitere Verse las Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller am Samstagabend im Rahmen der lit.COLOGNE in der Kölner Wolkenburg aus ihrem Buch „Vater telefoniert mit den Fliegen“. Einen passenderen Namen könnte der Veranstaltungsort dazu kaum tragen: In 191 Texten finden sich auf den ersten Blick der Wirklichkeit entrückte Momentaufnahmen, doch dahinter verbirgt sich mehr. Der Leser trifft immer wieder auf Wörter aus dem Themenbereich Diktatur, ein Sujet, das die Autorin nach eigener Aussage nie loslässt, dessen Auswirkungen sie selbst erlebt hat. Ein „Stillleben von Disparaten“ nannte Herta Müllers Gesprächstpartner, der Schriftsteller Michael Lentz, ihre Vers-Sammlung. Seit nunmehr 20 Jahren schneidet die Autorin aus Broschüren und Zeitschriften Wörter, manchmal nur Buchstaben aus und klebt sie auf einer Karteikarte zu Versen zusammen, platziert dazu jeweils eine kleine Collage. Dabei ist mal die Lektüre eines bestimmten Wortes der Auslöser für Gedanken, aus denen Poesie entsteht, mal sucht sie aber auch passende Wörter zu einem bereits vorhandenen Gedanken. Manche Zeitschriften kauft sie dreifach, weil sie manche Wörter in derselben Typografie mehrfach haben möchte. „Man wird komisch“, resümierte Herta Müller lachend. „Aber die Arbeit an diesen Versen ist für mich eine sehr sinnliche und sie macht süchtig. So süchtig hat mich das Schreiben von Romanen noch nie gemacht.“
Auch die Form spielt bei diesen Versen eine Rolle: Ihnen steht jeweils nur der Platz einer Karteikarte zur Verfügung, sie sind auf das Wesentliche reduziert. Auf Michael Lentz' Frage, nach welchen Kriterien sie entscheide, wo sie die Collage platziere, antwortete Hera Müller, das habe ganz pragmatische Gründe, die mit dem Platz zusammenhingen, der ihr zu Verfügung stünde. Manchmal sei es auch einfach Geschmack. Mehrfach wies sie ihren Gesprächspartner darauf hin, er würde gerade überinterpretieren: „Wenn man wüsste, warum man etwas genau so macht und nicht anders, würde man es nicht mehr tun. Theorien über Werke sind oft Angeberei oder künstlich von außen bestimmt.“ Ob ihre Werke in einer Zeit von Reproduzierbarkeit eine Aura des Originalen hätten? „Was für eine Aura? Das ist mir noch nie eingefallen, für mich ist das Arbeit, ich habe klebrige Finger und werde manchmal verrückt auf der Suche nach einem bestimmten Wort.“ Das Publikum durfte sich am Samstagabend über eine erfrischend ehrliche Autorin freuen, die ihren ganz eigenen Zugang zu Sprache und Poesie gefunden hat.

Herta Müller: Vater telefoniert mit den Fliegen, Carl Hanser Verlag, 19,90 Euro 

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