Zwischen Vernunft und Wahnsinn – Goya und die Druckgrafik
Was bleibt, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Wenn Aufklärung und Gewalt, Vernunft und Wahnsinn sich nicht länger gegenüberstehen, sondern ineinander verschlingen? Für Francisco de Goya war der Blick durch die Radiernadel ein Weg, die Zerrissenheit seiner Epoche zu bannen. Und vielleicht auch, sie zu überleben. Rund um das Jahr 1800 durchlebte Spanien politische Umbrüche, Inquisition und Krieg. Es war eine Zeit, die Aufklärung predigte, aber Folter praktizierte. In diesem Spannungsfeld arbeitete Goya: als Hofmaler, aber auch als Chronist eines entgleisenden Jahrhunderts. In seinen Druckgrafiken –´Radierungen, Aquatinten, Lithografien – zeigt sich das Innerste einer Gesellschaft: ihre Widersprüche, ihr Grauen, ihre Sehnsucht nach Licht. Die jetzt vollständig vorliegende Sammlung der 287 druckgrafischen Werke von Goya ist auch ein psychologisches Protokoll.
Caprichos, Desastres, Disparates – Kartografien der Dunkelheit
In den berühmten Caprichos karikiert Goya die Torheiten seiner Zeit: Aberglaube, Prüderie, Doppelmoral. In den Desastres de la Guerra wiederum werden Kriegsgräuel seziert – in ruhigen, fast leeren Kompositionen, die die Gewalt umso greifbarer machen. Und dann sind da noch die Disparates, jene rätselhaften „Närrischen“, in denen Albträume ihre eigene Logik entfalten. Goya hält das Fragile fest, das, was sich der Sprache entzieht und im Bild seine letzte Zuflucht findet.
Kunst als moralisches Dokument
Goyas Werk ist moralisch, weil es nicht wegsieht. Weil es nicht auf Erklärungen wartet, sondern zeigt, was ist. Seine Druckgrafiken verweigern Trost. Sie klagen nicht an, sie zeigen auf. Menschen, gefesselt, ermordet, entmenschlicht. Aber auch: träumende Riesen, maskierte Tänzer, fliehende Schatten. Figuren, die uns mehr ähneln, als uns lieb ist. „Phantasie ohne Vernunft führt zu Ungeheuerlichkeiten“, schrieb Goya 1799. Seine Bilder sind der Beweis. Aber sie sind auch der Versuch, das Ungeheuerliche zu zähmen – durch Kunst, durch Form, durch das Aufrechterhalten eines Blicks.
Das Individuum im Sturm der Geschichte
Diese Sammlung, herausgegeben mit profundem Kommentar von José Manuel Matilla und Anna Reuter, zeigt Goya als einen Künstler, der sich der Wahrheit verpflichtet. Seine Radierungen sind Fragen und manchmal stumme Schreie. Dass viele Blätter unter Goyas eigener Aufsicht entstanden, darunter seltene Zustandsdrucke und unveröffentlichte Serien, verstärkt den Eindruck der Unmittelbarkeit. Wir sehen, wie wenig sich die Themen verschoben haben: Machtmissbrauch, Krieg, Verblendung, Manipulation. Goyas Spanien ist kein ferner Ort. Es ist ein Spiegel.
Goya. The Complete Prints, TASCHEN, Verlag, 600 Seiten
Goya. The Complete Prints. TASCHEN Verlag