Berlin
BILDER UND WELTEN
Informationen: , 46 €
Verlag: Carlsen
Rezension
Kurz vor der Vollendung seiner ersten Graphic Novel "Narren" beschloss Jason Lutes aus einer Laune heraus, dass sein nächstes Werk vom Berlin der Zwanzigerjahre handeln und 600 Seiten haben würde. Er wusste nichts über die Weimarer Republik. 1996 begann er mit der Arbeit. In den USA erschien der "Berlin"-Zyklus über die Jahre in 22 Einzelheften, in Deutschland in drei Bänden, die Carlsen nun in diesem wunderschönen Backstein zusammenfasst. Seine Figuren repräsentieren die historisch relevanten Gesellschaftsschichten: Marthe, eine Tochter Kölner Bürger, geht nach Berlin, um Kunst zu studieren. Sie verliebt sich in Kurt, einen sarkastischen Melancholiker, der für die Weltbühne schreibt, und Anna, einen Transmann, für den die Stadt Freiheit und Geborgenheit bedeutet. Die Arbeiterfamilie Braun zerbricht am politischen Grundkonflikt ihrer Zeit: Der Vater schließt sich den Nazis an, die Mutter den Kommunisten. Die Familie Schwartz emigriert 1933. Einige Figuren begleiten wir nur einige Seiten lang, und mitunter zeigt uns Lutes einen einzelnen Gedanken einer Vorübergehenden. Lutes' Berlin ist so komplex und detailliert, dass man das Gefühl hat, man könne durch die Seiten aufs Pflaster treten und in die nächste Kneipe einkehren. Aber vielleicht sind wir längst da. "Ich bin sicher", sagt Lutes in einem Interview im Anhang, "dass solche rapiden und umwälzenden Veränderungen [wie die Industrialisierung] im Dienste einer Marktwirtschaft, von der nur die Wohlhabendsten profitieren, die Menschen kaputtmachen, ihrer Würde berauben und auf Dauer nicht auszuhalten sind. Derzeit sind die gleichen Effekte zu beobachten wie damals, nur dass sie durch die Technologie und die sozialen Medien noch verstärkt werden."
(ed)