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Die Schönsten Liebesromane: Jeanne Wellnitz (jw)

Alex Capus: Léon und Louise

Was bedeutet Liebe für einen Menschen, der zwei Weltkriege miterlebt? Ein Leben, von dem durch äußere Zwänge nur ein kleines Stück Seele zum Träumen übrig bleibt: Das ist der einzige Platz, an dem sich Léon und Louise „treffen“ können, da sie immer wieder voneinander getrennt werden.

Léon ist siebzehn Jahre alt und lernt auf seiner Segeljolle das erste Mal das Gefühl von Freiheit kennen. Er will mehr davon, bricht die Schule ab und lässt sich als Morseassistent zum kilometerweit entfernten Bahnhof von Saint-Luc schicken. Morsen hat er mithilfe der Jugendzeitschrift Le Petit Inventeur „gelernt“. Das muss reichen. Er bindet seinen Pappkoffer aufs Fahrrad und fährt über die endlosen Wiesen und Hügel der Normandie. Es ist Frühling; der windstille, sonnige Morgen und das grüne Meer stehen im absurden Kontrast zu dem fernen Donnergrollen des Ersten Weltkrieges. Die Beschreibungen von Capus’ Erzähler fangen im Verlauf des Romans immer wieder meisterhaft das paradoxe Nebeneinander von Krieg und „blühenden Butterblumen“ ein.

Der Muskelkater zieht an Léons Beinen, er erklimmt Hügel um Hügel und ist berauscht vom Sog der Freiheit. Plötzlich stört ein stetiges Quietschen seinen euphorischen Wettkampf gegen die Steigung. Eine junge Frau sitzt „locker aufrecht“ auf dem Sattel eines rostigen Herrenrades, kommt rasch näher und zieht „leichthin an ihm vorbei, als würde er am Straßenrand stillstehen.“ „Bonjour!“ sagt sie und gedemütigt schaut er der weißen Bluse mit den roten Punkten hinterher.

Abends liegt er verträumt auf dem Bett und denkt an das Mädchen. Im Café du Commerce trinkt er Tag ein Tag aus sein Glas Rotwein, in der Hoffnung, sie dort anzutreffen. Plötzlich steht sie neben ihm und bestellt in lässiger Geste zwei Schachteln Turmac-Zigaretten. Seinen Versuch, sie kennenzulernen, lässt sie jäh abblitzen. Der Wirt erzählt ihm, dass die geschätzte „kleine Louise“ mit ihrem „raubeinigen, absichtslosen Charme“ als Gehilfin des Bürgermeisters die Todesnachrichten gefallener Soldaten persönlich überbringt, anstatt sie der Post zu überlassen. Das Quietschen ihres Fahrrads ist mittlerweile zum grausamen Vorboten geworden. Deshalb repariert Léon ungefragt ihr altes Herrenrad. Als er abends nach Hause fährt, wartet Louise, an einen Baum gelehnt, auf ihn. Das soll der erste von unzähligen Spaziergängen werden. An einem Tag, den beide nie vergessen werden, sitzen sie am Fuß der Kreidefelsen am malerischen Strand von Le Tréport, hören kleine Kieselsteine unter der Decke knirschen und schauen auf das „orange-lila Wellenspiel des Ozeans.“ Sie fühlen sich, als sei ein „Zauber in alles gefahren.“ Auf ihrer Heimreise geraten Léon und Louise in das Mündungsfeuer deutscher Artillerie.

Zehn Jahre sind vergangen. Léon wohnt in Paris und hat sich an das „Gebell der Stadtmenschen“ längst gewöhnt. So, wie man sich an alles gewöhnt. Seitdem ihm das Maschinengewehrfeuer des Kampfflugzeuges zwei Kugeln in den Bauch gejagt hatte und Louise nie gefunden wurde, scheinen für ihn alle Kontraste im Leben nivelliert. Seine Frau Yvonne liebt er mit der Fürsorge eines guten Freundes. Sie spürt jedoch schmerzvoll, dass er sie anders liebt als Louise. Er ist immer in der Mitte, nie außer sich – sei es vor Glück oder aus Verzweiflung. Doch dann sieht er Louise am 17. September 1928 inmitten des Menschengewühls der Pariser Métro wieder.

Mit sanfter Intensität entfaltet „Léon und Louise“ sechs Jahrzehnte Lebens-, Liebes- und Weltgeschichte. Yvonne, die Wegbereiterin von Léons und Louises Liebe, wird ihre Großmut und der Krieg alles kosten, was sie zusammenhielt. Louise, deren Sehnsucht ihre „Leistungsgrenze“ fast überschreitet, wird ihre Selbstbestimmtheit nicht mal durch zwei Weltkriege einbüßen. Und Léon, ein Einsiedler von „fröhlicher Melancholie“, bleibt sich treu, sogar als die Wehrmacht Paris besetzt. Diese drei Menschen können gar nicht anders, als einander zu lieben und dabei den größtmöglichen Respekt zu wahren. Am Ende liest man das erste Kapitel des Romans – Léons Beerdigung am 16. April 1986  – noch einmal und ist berührt von einer Liebe, der Zeit und Raum genommen wurde, und die doch mit klarer Selbstverständlichkeit bis zum Tod fortbesteht.

Alex Capus: Léon und Louise. dtv, 320 Seiten, 9,90 Euro

HÖRBUCH: gelesen von Ulrich Noethen. Der Hörverlag, 394 Min./6CDs, 19,95 Euro
 

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