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Die Schönsten Liebesromane: Jeanne Wellnitz (jw)

Versprechen und Verzeihen

Ian McEwan: Liebeswahn

Wie viel hält eine Beziehung aus? Mit „Liebeswahn“ legt Ian McEwan das fesselnde Psychogramm eines Verfolgten vor, der das Vertrauen seiner großen Liebe verliert. In diesem Roman geht es nicht um die Suche nach Liebe, sondern darum, zu erfüllen, was man sich in guten Tagen versprochen hat.

Ein Auftakt, der unter die Haut geht. Joe und Clarissa sitzen unter einer Eiche in den Chiltern Hills. Ein Schrei durchbricht die Idylle. Joe rennt los. Der schockierte Ich-Erzähler sieht einen von Böen hin- und hergerissenen Freiluftballon und einen Mann, der vergeblich versucht, ihn zu befestigen. Im Korb kauert ein kleiner Junge. Joe und vier heraneilende Männer greifen die Seile. Doch ein Windstoß schleudert den Ballonführer auf die Wiese und hebt die restlichen Fünf in die Luft. Jetzt entscheidet der Wille jedes Einzelnen über Leben und Tod. Der erste lässt los und zwei Pulsschläge später geben auch Joe und die anderen auf. Doch einer verpasst die Sekunde des Absprungs und treibt in die Höhe. Augenblicke später fällt er als „schmaler, schwarzer Strich“ zu Boden. Jed Parry, einer der fünf Helfer, fordert Joe auf, mit ihm vor der Leiche zu beten. Doch Joe lehnt ab.
 
Auf den ersten Blick wirkt der „Kampf mit den Seilen“ und der unheimliche Auftritt Parrys wie der Beginn eines Psychothrillers. Doch „Liebeswahn“ ist auch die Geschichte einer Liebe, die einem ins Wanken geratenen Paar abhanden zu kommen droht. Clarissa und Joe reden, um das Entsetzen zu vertreiben. Joe zeigt ihr seine geschundenen Handflächen, sie küsst seine Wunden. Sie verbringen Stunden im Bett, in einer Umarmung, die eine neue Welt erschafft: „Alles war Berührung und Atem.“ Seit sieben Jahren leben die Literaturdozentin und der Wissenschaftsjournalist zusammen. Doch ein nächtlicher Anruf wird die Zweisamkeit auflösen. Selbst der kommentierende Ich-Erzähler kann sich nicht erklären, warum er Clarissa verschweigt, dass Parry ihm soeben seine Liebe erklärt hat.
 
„Meine Liebe – die auch Gottes Liebe ist – ist dein Fatum“, schreibt ihm der Besessene später in einem seiner unzähligen Briefe. Verzweifelt versucht Joe, den Alltag wieder aufzunehmen und das Geschehene zu verarbeiten. Der um seine gewohnte Rationalität bemühte Wissenschaftler holt in seiner Selbstanalyse weit aus und gewährt dem gebannten Leser damit Einsicht in die verborgensten Winkel seiner Seele. Als Parry ihm das erste Mal auflauert, vertraut Joe sich Clarissa an. Sie spielt seine Befürchtungen jedoch herunter. So sehr ihm diese leichte Sicht auf die Dinge auch behagt, fühlt er sich dennoch „zurückgelassen wie ein kleines Kind.“ Schon bald kann Clarissa keine „fürsorglichen Gefühlen“ mehr für ihn aufbringen. Sie sieht Parry nie vor der Tür stehen und zweifelt langsam an Joes Glaubwürdigkeit. Ein heftiger Wortwechsel entbrennt. Es kommt zu einer Auseinandersetzung, die sich von der üblichen, eskalationsfreien Streitstruktur der Liebenden abhebt. Beide scheinen „Schauspieler in einem Stück zu sein, das sie nicht abbrechen können“.
 
Von nun an handelt Joe allein. Ihre Blicke treffen sich nicht mehr und beide haben aufgehört, sich mitzuteilen. Sie liegen im Bett wie „einander gegenüberliegende Armeen, die sich hinter einem Labyrinth von Schützengräben verschanzt haben.“ Joe erkennt schmerzhaft: „Unsere liebevollen früheren Ichs hätten uns niemals verstanden.“ Als auch die Polizei ihn nicht ernst nimmt, beschließt er, sich im Alleingang gegen Parry zu wehren. Die Geschichte entfaltet Schlag auf Schlag ihre mitreißende Dramatik und einige der packenden Handlungsstränge enden mit einer bewegenden Wendung. „Liebeswahn“ durchmisst mit überwältigender Hingabe das ganze Spektrum einer Paarbeziehung, die in eine äußere Krise gerät und damit eine innere erfährt. Beide Protagonisten müssen einander verzeihen. Jeder besteht auf sein Recht. Doch diese Spannung kann sie nicht daran hindern, wieder zueinander zu finden.

Ian McEwan: Liebeswahn. Übersetzt von Hans-Christian Oeser. Diogenes, 356 Seiten, 10,90 Euro

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