Jump to Navigation
Die Schönsten Liebesromane: Jeanne Wellnitz (jw)

Thommie Bayer: Das Herz ist eine miese Gegend

Thommie Bayers sensibler und gleichzeitig äußerst heiter vorgetragener Liebesroman „Das Herz ist eine miese Gegend“ erzählt in bemerkenswerter Intensität die Geschichte einer ersten Liebe, die bereit ist, alle Hürden zu nehmen, die ihr das Leben zu bieten hat.

1966. Giovanni ist genau dreizehn Jahre, drei Monate und sechzehn Tage alt. Um dreizehn Mal „Norwegian Wood“ zu hören, muss er zwei Stunden Gartenarbeit hinter sich bringen, denn der Plattenspieler wird vom Vater nur stundenweise und nach getaner Arbeit freigegeben. So verheißungsvoll und zwanglos wie der Beatles-Song, ist auch Giovannis Gedankenwelt: sein „gehüteter Geheimplatz“, bereit für alle Premieren, die ihm das Leben jetzt zu bieten hat. Äpfel klauen, auf das erste Rixe-Fahrrad sparen, Eltern und sonstige Autoritäten ignorieren oder in die Irre führen, den Berichten des besten Freundes über die Fortschritte beim anderen Geschlecht lauschen – das ist alles, was ihn interessiert. Giovanni gehört zur ersten Generation, die ohne Krieg aufwächst, und wird erst etwas später mit den seelischen Spuren, die der Zweite Weltkrieg hinterließ, in Berührung kommen. Jetzt sind da erst einmal so viele „wilde Gegenstände, die es einzufangen“ gilt.

Mit fünfzehn Jahren saust er über eine „dunkelgrüne“ Ampel, wird angefahren und kommt erst in den Armen eines blonden Mädchens wieder zu Bewusstsein. Laura. Sie ist schon sechzehn und damit gefühlte Lichtjahre von ihm entfernt. Trotzdem besucht sie ihn regelmäßig im Krankenhaus, sitzt auf seinem Bett, die Füße hochgezogen und die Arme um die Knie geschlungen. „Aus ihren Hosenbeinen kamen Ringelsöckchen, in denen sie mit den Zehen wackelte, als wären ihre Füße kleine Tiere. Und diese Tiere krabbelten neben Giovannis Beinen auf dem Laken herum.“ Fast alles, was nicht Laura ist, erscheint ihm fortan nur noch in „Schwarz-Weiß“.

Verheißungsvoll nah und gleichzeitig fremd

Ein Sommer in Farbe beginnt und mit ihm die wilden Abenteuer der ersten Liebe und intensiver Freundschaften. Er sieht aufwühlende Kinofilme, liest Bücher, die seine persönliche Welt beunruhigend stark beeinflussen, und spürt, dass Gefühle und Gedanken im Nicht-mehr-Kind-sein ihre Ordnung verlieren: „Alles wurde verstreut, zerfiel in Teile und verlor die eindeutige Adresse.“ Es gab nun nicht mehr nur einen besten Freund, ein Lieblingslied oder den konkreten Berufswunsch. „Nur die Liebe, das, was er schon von ihr kannte, gehörte ausschließlich Laura.“

Wenn Laura nicht da ist, hört er Leonard Cohens „Suzanne“, schließt die Augen und sieht ihren „Körper von allen Seiten“. In diesem Lied wird er sein Leben lang immer nur Laura finden. Laura, die den „Glanz der Sonne im Haar hat“, ihm verheißungsvoll nah und gleichzeitig fremd ist. Lange Zeit kann er ihren Körper wie in „Suzanne“ nur in seinen Tagträumen erahnen: „And you want to travel with her. And you want to travel blind. And know she will trust you. For you‘ve touched her perfect body with your mind.“ Thommie Bayer, der Popliterat! Aber vor allem: Thommie Bayer, der Romantiker.

Aufrichtige Einsichten

Die Geschichte von Giovanni und Laura erzählt von der einen große Liebe, die Giovanni schmerzvoll zeigt, dass „Gehendürfen“ so anders ist als „Bleibenmüssen“, dass man sich an Worten mehr festhalten kann als an einem lieb gewonnenen Körper und was der Unterschied zwischen leidenschaftlicher Hingerissenheit und einer durch „Gewohnheitsrechte“ geregelten Liebe ist. In gefühlvollen Bildern vermittelt der Erzähler dieses fesselnden Romans die beeindruckend aufrichtigen Einsichten des Protagonisten und kreiert facettenreiche Figuren, denen Giovanni im Verlauf seines Lebens sehr nahe kommt.

„Das Herz ist eine miese Gegend“ wird hauptsächlich von den wechselnden Stimmungen getragen, die Giovannis jeweiliges Lebensgefühl in den drei erzählten Jahrzehnten ausmachen. Es entfaltet sich eine mitreißende Welt vielfarbiger Gefühlszustände und kluger Beobachtungen. Eine Welt, die den Leser unweigerlich an die erste große Liebe und die Höhen und Tiefen des eigenen Erwachsenwerdens erinnert und dabei fast alles an Tränen der Rührung, Wehmut und Freude abverlangt.

Thommie Bayer: Das Herz ist eine miese Gegend. rororo, 262 Seiten, 8,95 Euro

Themenwelten

Senioren, Greise, Silver Surfer

Senioren, Greise, Silver Surfer

Alte Menschen in der Literatur

Vom Eise befreit

Vom Eise befreit

Frühlingsliteratur

Über das Denken

Philosophie für Kinder

Von Geburt an Philosophen

Wer sind die anderen?

Afrika

Der so genannte dunkle Kontinent

Familiengeschichten

Vater, Mutter, Kind, Krieg

Familiengeschichten

Wirtschaftskrisenwerke

Wirtschaftskrisenwerke

Über Gier und Risiko