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Überschätzte Bücher: Stefan Volk (smv)

Ein Deutschlandroman auf Zuruf

Ingo Schulze: Simple Storys

Ingo Schulzes Wende-Roman „Simple Storys“ ist gar nicht mal so übel. Das Feuilleton aber hat ihn derart hochgejubelt, dass er am Ende dann doch schwer enttäuscht. Ein Deutschlandroman auf Zuruf: gut gemeint, aber seltsam distanziert, bieder und kraftlos.

Die Idee ist nicht schlecht: Ingo Schulze schreibt 29 Kurzgeschichten, die alle im selben fiktionalen „DDR nach der Wende“-Kosmos angesiedelt sind, nennt sie „Kapitel“ und bastelt einen Roman daraus. Die Ich-Erzähler, Helden, oder doch eher Antihelden, seiner literarischen Miniaturen kennen sich untereinander, teilweise sind sie verwandt, verschwägert. Jede einzelne Story zeichnet das charakteristische Bild einer Zeit, eines Lebensgefühls. Im gemeinsamen Kontext aber entpuppen sich die Erzählungen als subjektive Wirklichkeitsausschnitte, die sich gegenseitig nicht nur ergänzen, sondern auch relativieren, widersprechen und erst in diesem Zusammenspiel und Widerstreit eine Ahnung von historischer Wahrhaftigkeit vermitteln. So weit, so wunderbar. Das Problem an Schulzes ambitionierten, multiperspektivischen Mosaik ist jedoch, dass es nicht aufgeht.

Um aber möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Auch die Umsetzung ist nicht übel. Stilistisch bewegt sich Schulze auf hohem Niveau, mit einem guten Gespür dafür, wann es besser ist, etwas wegzulassen als etwas hinzuzudichten. Es ist nur so, dass dem Roman zum großen Wurf dann doch einiges fehlt. Gemessen an den Erwartungen, die von den teilweise ekstatischen Kritiken geschürt wurden, erweist sich „Simple Storys“ rückblickend als gründlich überschätzt. Was im ersten, zweiten, vielleicht noch dritten Kapitel funktioniert, entpuppt sich bald als wiederkehrendes Muster. Schulze formuliert gekonnt, atmosphärisch dicht und vergisst nie, sich mit einer lakonischen Pointe davonzustehlen. Das liest sich dann so: „Vorsichtig führte sie das volle Glas zum Mund und begann zu trinken, und der Kellner, die Hände in die Hüften gestemmt, sah ihr dabei zu.“ So: „Die Elstern fliegen weg. Erst die eine, dann die andere. Eine Weile wippen die Zweige noch, auf denen sie gesessen haben. Dann rührt sich nichts mehr, wie auf einer Fotografie.“ Oder so: „Er lachte auf, laut und überraschend schrill, so dass Edgar zurückwich und der Schlüssel mit der 7 auf dem Metallanhänger nun genau in der Mitte zwischen ihnen lag.“ Stets irgendwie ähnlich und immer vage bedeutsam.

Tatsächlich aber hat Schulze oft gar nicht so viel zu erzählen: ein bisschen Stasi und viel zwischenmenschliche Tristesse. Besonders im Mittelteil füllt er den Roman mit seitenlangen, ziemlich banalen Dialogen auf, um gegen Ende gänzlich in einen Drehbuchstil zu verfallen: „Patrick sitzt in einem großen grauen Sessel vor dem kaputten Fernseher. Links von ihm ein Fenster, rechts ein Esstisch und davor Danny auf einem Stuhl mit dem Rücken zu Patrick. Das Abendbrot für drei Personen ist noch nicht abgeräumt. Zwei der vier gelben Glaskugeln über dem Tisch leuchten, ein mattes Licht. Darunter brennt eine Kerze. Aus den angrenzenden Wohnungen hört man Fernsehgeräusche.“

Letztlich haben von den 29 Impressionen aus dem ostdeutschen Provinzalltag allenfalls eine Handvoll das Zeug zur eigenständigen Short Story. Die meisten Texte sind dafür einfach zu simpel; auf Übergänge ausgelegt, literarische Lückenfüller. Am enttäuschendsten aber ist, dass sie sich auch zu keinem organischen Gebilde fügen. Als Roman wirkt die Geschichtensammlung nicht nur fragmentarisch, sondern vor allem blutleer und substanzlos. Zu sehr verzettelt sich Schulze im artifiziellen Arrangement poetischer Paukenschläge. Sich ohne Stift und Notizblock einen Überblick über die sozialen, familiären oder dramaturgischen Zusammenhänge seiner Romanfiguren zu verschaffen ist kaum möglich. Deutlich schwerer aber wiegt, dass Schulzes Protagonisten zu simplen Skizzen erstarren: exemplarische Mustercharaktere in einer hochgradig komplexen, sterilen Versuchsanordnung. Ihre feinsinnig umschriebenen Befindlichkeiten verkommen auf diese Weise zum literarischen Effekt. Wer also mit „Simple Storys“ den „langersehnten Roman über das vereinigte Deutschland“ („Der Spiegel“) entdeckt zu haben glaubte, hat vermutlich schon recht verzweifelt danach gesucht und sich am Ende dann doch zu früh gefreut.

Ingo Schulze: Simple Storys, dtv, 316 Seiten, 9,90 Euro

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