Andrea Maria Schenkel: Finsterau
Andrea Maria Schenkel hätte mit „Finsterau“ endlich einen würdigen Nachfolger für ihr preisgekröntes „Tannöd“-
Debüt präsentieren können.
Einen grausam lakonischen, schmerzhaft schönen Kriminalroman – wenn sie ihn nur zu Ende geschrieben hätte.
Man könnte einen Roman darüber schreiben: Vor sechs Jahren schoss Andrea Maria Schenkel aus dem Nichts in den Krimi-Olymp. „Tannöd“, das Debüt der mittlerweile 50-jährigen Regensburgerin, entwickelte sich auf Anhieb zum internationalen Bestseller, wurde verfilmt und erhielt mehrere renommierte Literaturpreise. Danach konnte es eigentlich nur noch bergab gehen. Schenkel sah sich Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Sachbuchautor Peter Leuschner, der den historischen Mordfall, auf dem „Tannöd“ basierte, in mehreren Büchern rekonstruiert hatte, behauptete, sie habe bei ihm abgeschrieben. Ihre nächsten Krimis fanden bei der Kritik wenig Anklang. „Finsterau“ aber feierten in diesem Frühjahr viele als ihr literarisches Comeback. Der Tenor: So gut war sie seit „Tannöd“ nicht mehr. Erneut könnte man ihr nun jedoch vorhalten, sie habe abgeschrieben. Diesmal allerdings bei sich selbst.
Schon der Titel von Schenkels neuem Kriminalroman erinnert an „Tannöd“; genau wie die knappen, klaren Sätze mit den Versatzstücken aus bayerischem Dialekt, die Anklänge an den Heimatroman und das Konzept: ein Verbrechen, ein Ort, eine Geschichte, aber viele Blickwinkel. „Fin-
sterau“ ist ein kleines Dorf im Bayerischen Wald. Mitte der 1960er Jahre taucht dort im Wirtshaus ein schäbig gekleideter Fremder auf, vielleicht ein „Sandler“, ein Obdachloser, oder ein fahrender Händler, ein Vagant. Betrunken fängt er an, von einem Mord zu reden und davon, dass der wahre Schuldige noch immer frei herumlaufe. Kurz nach dem Krieg, 1947, war die Häuslerstochter Afra Zauner tot in der Wohnstube ihrer Eltern aufgefunden worden, brutal erschlagen. Blutüberströmt daneben lag ihr Kind, der kleine Albert, der später im Krankenhaus ebenfalls verstarb. Ein Schuldiger war schnell ausgemacht: Afras Vater, der alte Zauner, bei dem Afra lebte, seit sie 1944, schwanger von einem Franzosen, aus der Stadt zu ihren Eltern zurückgekehrt war. Ständig hatte es Streit gegeben zwischen den beiden, dem jähzornigen, gottesfürchtigen Alten und der renitenten Tochter, die mit ihrem „Bankert“, ihrem unehelichen Kind, eine Schande war für das ganze Dorf und am meisten für ihren Vater.
Die Geschehnisse in „Finsterau“ basieren auf einem realen Fall, von dem Schenkel in der Zeitung gelesen hat. In gewohnter Manier erzählt sie die von ihr dazu erfundene Geschichte aus wechselnden Perspektiven und streut regelmäßig fiktive Aussagen ein, in denen sich Zeugen, pensionierte Polizisten oder Staatsanwälte „18 Jahre nach den Ereignissen“ zurückerinnern: „Der Kriminalrat Hecht, der hat damals die Sache an sich gerissen. Der war immer scharf auf Kapitalverbrechen. (…) Der wollte auch keinen dabeihaben, wenn er mit den Beschuldigten gesprochen hat. Der Hecht ist mit demjenigen in dem kleinen Kämmerlein verschwunden und erst wieder herausgekommen, wenn er ein Geständnis hatte. Und gestanden haben bei dem alle.“
Dass mit Johann Zauner der Falsche verurteilt wurde, ist schnell klar. Wer aber war es dann? Der hinkende Hetsch, der schon lange hinter der schönen Afra her war? Oder die beiden Wanderburschen, die damals in der Gegend waren? Geschickt arrangiert Schenkel einen Staffellauf der Verdachtsmomente. Kaum glaubt man sich der Wahrheit auf der Spur, streut sie Zweifel, legt eine andere Fährte. Neu ist dieses Strickmuster nicht, trotzdem geht es auf, bis Schenkel es zum Ende hin plötzlich eilig hat und so manchen sorgsam gesponnenen Handlungsfaden abrupt fallen lässt. Vielleicht wollte Schenkel partout einen schmalen, schlanken Band vorlegen; und kurz ist der Roman mit seinen gut 120 Seiten ja auch geworden. Aber anstatt von Anfang an den Plot zu kanalisieren, kappt sie am Ende rücksichtslos die fantasievoll verästelten Erzählstränge. Als Leser bleibt einem nach diesem Krimi Interruptus nichts anderes übrig, als das Buch verärgert und unbefriedigt zuzuklappen. Ein würdiger „Tannöd“-Nachfolger ist
„Finsterau“ deshalb nur im Konjunktiv: Er hätte es werden können, hätte sich Schenkel nur die Zeit dafür genommen.
Andrea Maria Schenkel: Finsterau, Hoffmann und Campe, 126 Seiten, 16,99 Euro