Lutz Seiler
Alles über Wasserleichen
Zehn Jahre lang hat Lutz Seiler fast ausschließlich Gedichte geschrieben. In seinem ersten Roman versucht ein junger Mann, DDR-Bürger von der gefährlichen Flucht übers Meer abzuhalten, indem er sie zu einer inneren Freiheit führt. Außerdem erzählt „Kruso“ die Geschichte einer intensiven Freundschaft.
Nach dem Tod seiner Freundin heuert Ihr Erzähler, der Germanistikstudent Ed, als Abwäscher auf Hiddensee an. Dort lernt er Kruso kennen, für den er eine Art Freitag wird. Woraus ist die Figur Alexander Krusowitsch entstanden?
Den Namen hatte ich, bevor ich mit dem Roman angefangen habe. Die Skandinavier schreiben den Nachnamen von Robinson Crusoe mit „K“: Kruse. Der Crusoe in Daniel Defoes Roman „Robinson“ heißt eigentlich Kreutzner. Außerdem gibt es ein böhmisches Bier, das Krusowitsch heißt.
Ist das gut?
Als ich es zum ersten Mal getrunken habe, war das Buch schon fertig, aber es ist klasse. Eine wichtige Quelle für die Figur Krusos ist auch die Geschichte Aljoscha Rompes, des Sängers der ersten ostdeutschen Punkband Feeling B, die auch auf Hiddensee gespielt hat. In einem Kapitel beschreibe ich ein Konzert am Strand. Augenzeugen haben von Rompes Auftritten so ähnlich berichtet.
Ed und Kruso arbeiten in der Gaststätte „Zum Klausner“, einem „Schiff im Waldhausstil“. Die Besatzung ist eine verschworene Gemeinschaft eigenartiger Typen. Wie haben Sie dieses Ensemble zusammengestellt?
Man hat diese zwölf Apostel, diese Tafelrunde von Kellnern, Barleuten und Abwäschern. Man entwickelt einen Fundus von Szenen, die zu diesen Figuren gehören. Christian Delius, den ich 2011 in Rom mehrmals traf, hat mir empfohlen, erst einmal einen Tunnel durch das Material zu treiben, so lange, bis ich Licht am anderen Ende sehe, und erst dann in die Feinheiten zu gehen. Während der Überarbeitung dann konnte ich sehen, dass das Buch, wenn ich wirklich all das erzählt hätte, was ich gern über diese Figuren erzählen wollte, tausend Seiten lang geworden wäre – tödlich für die Dramaturgie des Ganzen.
Mit dem Zerfall der DDR verlässt diese Mannschaft nach und nach ihr Schiff. Ed und Kruso allein im „Klausner“, das sei eine der schönsten Szenen, sagten Sie. Warum?
Zum einen, weil mir diese Phase des Niedergangs, des Kaputtgehens, der Abwanderung, der Zerstörung beim Schreiben am allermeisten Spaß gemacht hat. Zum anderen, weil ich diese beiden besten Freunde, deren Beziehung schwierig, aber doch auch sehr zärtlich ist, noch einmal allein hatte. Wie sie am Kellnertisch sitzen und einander ihre Geschichten erzählen, wie sie sich Gute Nacht sagen, das war mir atmosphärisch das Liebste, auch im Hinblick auf den erotischen Untertext, der eine wichtige Rolle spielt.
Wie hätte es den Roman verändert, wenn die Freundschaft zwischen Ed und Kruso eine Liebe gewesen wäre?
Wahrscheinlich ist es eine Liebesgeschichte, aber das wird nur in wenigen Momenten wirklich sichtbar. Läge alles offen, würde die Beziehung der beiden sofort ein derart großes Gewicht bekommen, dass das Gesamtgebäude des Romans aus dem Gleichgewicht käme.
Die meisten Frauenfiguren in „Kruso“ sind tot, unsichtbar oder abwesend. Warum?
Das hat sich aus der Dramaturgie ergeben und dem, was ich in „Kruso“ erzählen wollte. Ich wollte eine Männerfreundschaft beschreiben, im Grunde die Gefühlswelt dieser Beste-Freunde-Freundschaften, wie man sie als 13- oder 14-Jähriger vielleicht gehabt hat, und die Zärtlichkeit, die das hatte, kurz bevor die Zeit kommt, in der man endgültig in die Geschlechterrollen hineinkippt. Diese Freiheiten, diese Intimität, sind dann nicht mehr da. Ed hat einfach das starke Gefühl, dass er mit Kruso an diese Zeit der Beste-Freunde-Freundschaften anknüpfen kann.
Wie unterscheidet sich Prosa von Lyrik, was den Schreibprozess angeht?
Ich glaube, es gibt ein Leben hin zum Gedicht und ein Leben hin zum Roman, zwei Bewusstseinszustände, zwischen denen man nicht ohne Weiteres wechseln kann. Wenn wir Gedichte schreiben, gibt es Formen konzentrierter Abwesenheit, die es erlauben, an den uns vertrauten Begriffen und Kausalzusammenhängen vorbei auf die Dinge zuzugreifen, eventuell etwas ganz Neues zu sehen und ein starkes Bild abzuschöpfen. Bei der Prosa ist das Detail aus der Wirklichkeit wichtiger. Zum Beispiel, dass man hört, wie Leute reden und was sie sagen.
Mit welchem Bild begann Ihre Arbeit an „Kruso“?
Der russische General, der an der Ostsee steht, und ihm werden die Hosenbeine nass von den Wellen. Daraus ist eine der Schlussszenen des Buches geworden. Wir waren in Rom in der Villa Massimo zu einem Konzert eingeladen. Ein experimenteller Pianist hat dort gespielt, dann flog ein Flugzeug über das Gelände, und der Pianist spielte mit diesem Geräusch im Hintergrund. Vielleicht war ich auf eine gewisse Weise abwesend. Ich habe dieses Bild gesehen, die nassen sowjetischen Hosenbeine, und plötzlich hatte ich einen Faden in der Hand.
Wie haben Sie für diesen Roman recherchiert?
Ich habe alles gelesen, was es über Hiddensee zu lesen gibt. Und dann gibt es Material, das man jahrzehntelang in Notizbüchern mit sich herumschleppt und das dann in bestimmte Figuren einfließt. Den größten Rechercheaufwand erforderte der Epilog. Die Suche nach den in der Ostsee Ertrunkenen, Eds Reisen nach Dänemark. Dafür war ich viel unterwegs, in Kopenhagen und auf Mön. Bei der Literaturagentur „Das Vorzimmer“, das ist eine winzige Berliner Agentur, habe ich eine Recherche über Wasserleichen in Auftrag gegeben. Ich weiß jetzt alles über Wasserleichen. Ein Potsdamer Gerichtsmediziner hat seine Bücher zur Verfügung gestellt und Auskunft gegeben. Ich konnte diese Bücher immer nur für eine Sekunde aufklappen, dann sofort wieder zu. Und dann versuchen, das zu vergessen. Einerseits wollte ich im Epilog einen gewissen Realitätsgrad haben, andererseits gilt es, die Würde dieser Menschen zu wahren. Dafür brauchte ich eine literarische Technik: Im Buch wird aus Eds Notizbuch zitiert, mit Abkürzungen, stenographisch, in verkürzter Form. Man bekommt einen Eindruck von dem, was Ed sieht, aber es wird nie zum literarischen Selbstzweck, die Toten aus dem Wasser zu beschreiben.
Lutz Seiler: Kruso. Suhrkamp, 484 Seiten, 22,95 Euro, als E-Book erhältlich
Hörbuch
Gelesen von Franz Dinda. Hörbuch Hamburg, 657 Min./9 CDs, gekürzt, 24,99 Euro