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Liao Yiwu

Der chinesische Literaturbetrieb wird von der Propaganda- und Zensurbehörde GAPP („General Administration of Press and Publication“) kontrolliert. „Was in China verboten ist und was erlaubt“, erklärt Liao, „ist oft schwer fassbar. Nur in der Literatur ist es ganz klar: Der 4. Juni 1989 muss vergessen werden.“  

Zehn Jahre Haft für eine E-Mail

Tienchi Martin-Liao, die Präsidentin des unabhängigen chinesischen P.E.N.-Zentrums, geht davon aus, dass vierzig bis fünfzig festlandchinesische und mindestens ebenso viele tibetische Schriftsteller, Journalisten und Historiker ihrer Schriften wegen im Gefängnis sitzen. Außerdem weist sie auf die langen Haftstrafen hin. Seien früher drei Jahre die Regel gewesen, erhielten Dissidenten heute selten weniger als zehn Jahre. Einer dieser politischen Gefangenen ist der Dichter und Journalist Shi Tao, der 2005 verurteilt wurde und voraussichtlich 2015 freikommen wird. Er hatte einer amerikanischen NGO per E-Mail mitgeteilt, dass die Regierung Journalisten davor warnte, im Vorfeld des 15. Jahrestages über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu berichten. Viele weitere werden überwacht, willkürlich unter Hausarrest gestellt oder durch Kommunikationsverbote von der Außenwelt abgeschnitten.

Warum betreibt die Kommunistische Partei so viel Aufwand, um die kollektive Erinnerung an das Massaker in den Straßen Beijings zu unterdrücken, wenn eine Aufarbeitung der Ereignisse einfacher und weniger kostenaufwendig wäre? Liao Yiwu holt zu einer Erklärung aus: „Zunächst einmal handelt es sich hier um eine Diktatur, und Diktaturen können keine Fehler zugeben. Weil sie keine machen.“ Er lächelt. „Die KP hat die Geschichte erfolgreich durch den Wirtschaftsboom ersetzt. Die Menschen leben wie Fliegen auf einem Müllhaufen. Sie wissen nichts. Sie wissen nur, dass sie Geld verdienen sollen. Das ist eine ganz schreckliche, eine gefährliche Gesellschaft. Und die Ursache dafür liegt im 4. Juni 1989. Der Traum von Freiheit und Demokratie verwandelte sich an diesem Tag in einen Albtraum, und er ist so hässlich, dass die Regierung versucht, ihn auszulöschen.“ Deshalb schreibt Liao, der Dichter, Zeugenliteratur. Deshalb erzählt er die Lebensgeschichten seiner Mithäftlinge. Deshalb befragt er die Familien der Toten des 4. Juni.
Seine Ausreise möchte er nicht als Flucht verstanden wissen. „Es war meine aktive Entscheidung, zu gehen. Ich hätte auch in China bleiben können, aber man hat mir wortwörtlich gesagt: Wenn das Buch erscheint, komme ich ins Gefängnis.“ Den Bericht im Exil trotz allem zu veröffentlichen, betrachtet er als Pflicht gegenüber dem chinesischen Volk. „Was jetzt passiert, muss dokumentiert undverbreitet werden.“

Was fehlt, ist das Trinken mit Freunden

Seit Juli lebt Liao in Berlin. Er tritt auf, gibt unermüdlich Interviews, nimmt an Podiumsdiskussionen teil und trifft deutsche Kollegen. Eine besondere Zuneigung verbindet ihn mit Herta Müller, denn „sie weiß, wie es ist, im eigenen Land verfolgt und bespitzelt zu werden.“ Auf die Frage, was er vermisse, antwortet er zuerst: „Meine Geschichten. Die Unterhaltungen mit Gemüsehändlern oder Rikschafahrern.“ Er lacht. „Die fühlen sich mir überlegen, weil ich nur Schriftsteller bin. ‚Du bist doch kaputt!‘ sagen sie.“ Dann überlegt er. Das Trinken mit Freunden fehle ihm. Und seine Familie. Statt „außerhalb von China“ sagt Liao oft „in der Freiheit“, es klingt abgeklärt. „Jetzt sitze ich hier in der Freiheit“, stellt er fest, „und vermisse die Leute, die mir ihre Geschichten erzählen.“
 
iao Yiwu kennt die Gefahren des Exils. „Ich möchte nicht von der Freiheit zerschlagen werden“, sagt er. „Viele Exilschriftsteller und Dissidenten haben in der Freiheit ihr Lebensziel verloren.“ Er nennt Literaten wie Ma Jian, der in Großbritannien lebt, oder den Nobelpreisträger Gao Xingjian, der 1987 nach Frankreich übersiedelte. „Die mussten vor Jahrzehnten das Land verlassen und schreiben über ein China, das sie nur aus dem Internet kennen.“ Liao hat in den letzten zehn Jahren über 300 Interviews geführt und verfügt, wie er sagt, über Material für viele weitere Bücher: „Schließlich habe ich 53 Jahre meines Lebens in China verbracht.“ Im September erscheint bei HarperOne ein Buch über das Überleben der chinesischen Christen. Ein Band mit Interviews mit Angehörigen der Opfer des 4. Juni ist in Vorbereitung. Und „Für ein Lied und hundert Lieder“ erscheint in chinesischer Sprache in Taiwan. Er hat recht behalten, der Unnachgiebige, der kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis dem Beamten, der sich weigerte, ihm seinen Besitz zurückzuerstatten, sagte: „Nimm mich gleich ein paarmal fest, das erhöht meine internationale Wirkung!“

Liao Yiwu: Für Ein Lied und Hundert Lieder. Übersetzt von Peter Hoffmann. S. Fischer, 592 Seiten, 24,95 Euro

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