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Portrait: Stefan Volk (smv) | Fotos: Gerald von Foris

Das Debut: Daniela Krien

Über alle Grenzen hinweg

Daniela Krien erzählt von idyllischem Landleben, unruhigen Zeiten und einer gewaltigen, sinnlichen Liebe: In den letzten Tagen der DDR trifft sich eine 16-Jährige heimlich mit dem Eigenbrötler vom Nachbarhof.

Außergewöhnlich geduldig eröffnet Daniela Krien diesen wundervollen Roman. Über mehr als eine Seite hinweg beschreibt sie Lage und Aufbau des Brendel-Hofes, eines Dreiseithofes, auf dem ein Großteil ihrer Geschichte spielt. Es ist ein „heißer, herrlicher Sommer“, und die Welt ist weit weg, obwohl sich die deutsch-deutsche Grenze ganz in der Nähe befindet. Doch noch näher liegt jener Ort, an dem Kriens Ich-Erzählerin Maria manch heimliche Stunde verbringen wird. „In einem Anbau, der den gut dreißig Meter langen Stall um weitere zehn Meter verlängert, stehen die Fahrzeuge. Auch hier, wie in Scheune und Stall, führen ein großes Tor hinein und ein ebenso großes in der Rückwand wieder heraus. Schaut man von dort aus nach links, erblickt man am Rande des Gemüsegartens den Schafstall; geradeaus sieht man eingezäunte Wiesen und den Bahndamm und, hinter den Schienen, in einiger Entfernung, doch klar erkennbar: den Henner-Hof.“

Daniela Krien schreibt ganz anders, leichter, moderner, in kürzeren Sätzen, und doch erinnert dieser Auftakt mit dem träge umherschweifenden Blick, in dem Grenze und Gefahr, Geborgenheit und Sehnsucht einander begegnen, an die ersten Zeilen aus Theodor Fontanes „Effi Briest“. Es wundert daher nicht, dass Maria, die noch ein Jahr jünger ist als Fontanes Titelheldin, diesen Roman liest. Es ist aber ein anderes Buch, das sie beständig begleiten wird: Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“. Schon der Titel von Kriens Erstling spielt darauf an.

Dostojewski hat alles gesagt

Die Liebe zu Dostojewski teilt Maria mit der Autorin, die sie ins Leben gerufen hat. Mit Mitte zwanzig, sagt Daniela Krien, sei sie sogar der festen Überzeugung gewesen, „wenn man alles von Dostojewski gelesen und verstanden habe, sei es völlig überflüssig noch ein anderes Buch zu lesen, denn alles, was der Mensch über das Leben wissen müsse, stünde darin.“ Mittlerweile ist sie 36 und fügt hinzu: „Heute sehe ich das anders.“ Ihre Begeisterung für den großen russischen Schriftsteller aber ist geblieben, und sie ist nicht das Einzige, was sie mit ihrer Romanheldin verbindet. Beide sind in etwa derselbe Jahrgang, wachsen im Vogtland auf. Marias Jugendfreund will Fotograf werden, Daniela Krien ist mit einem Fotografen verheiratet. „Ich glaube, jeder Roman ist autobiografisch, in dem Sinne, dass eigene Erlebnisse, Gedanken und Gefühle die Imagination beeinflussen und sich schließlich untrennbar mit der Fiktion verbinden“, weicht Krien einer Antwort auf die Frage aus, wie viel sie und ihre Protagonistin gemeinsam haben. „Wo genau das Erlebte aufhört und das Erdachte beginnt, werde ich nicht preisgeben.“ Dass sich die Autorin hier bedeckt hält, dürfte auch daran liegen, dass ihr Roman ein heikles Thema behandelt: die Liebe einer 16-Jährigen zu einem 40-Jährigen mit einer fast bedingungslosen sexuellen Hingabe.

Maria verbringt die letzten Tage der DDR bei der Familie ihres Freundes Johannes, lernt von seiner Mutter und der Oma, wie man Suppe kocht und Kuchen backt. Dann öffnet sich die Grenze, man fährt rüber, holt sich das Besuchergeld, trinkt Kaffee, staunt. Siegfried, der Vater, redet plötzlich von „Demeter“ und Fruchtfolge oder von Stasiakten. Und der verlorene Sohn, Johannes’ Onkel, der einst in den Westen floh, kündigt seinen Besuch an. Johannes kauft sich einen sündhaft teuren Fotoapparat und verbringt den halben Tag auf Motivsuche oder im Labor, das er sich auf dem Hof eingerichtet hat. Maria aber schleicht sich derweil zum vierzigjährigen Henner, der allein mit seinen beiden großen Hunden auf dem Nachbarhof lebt, ohne Radio, ohne Fernseher. Beim Henner steht die Zeit still, und Maria liefert sich ganz seinen groben Händen aus.

Filigran und hocherotisch

Manche Dinge, sagt Maria, „können gleich erzählt werden, andere haben ihre eigene Zeit, und manche sind unsagbar“. Doch ein Geheimnis wie das zwischen Maria und „dem Henner“ wird das Leben für immer verändern. „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist die zärtlich-sinnliche Geschichte einer Liebe von großer Wucht, in einer Zeit, in der alles in Bewegung gerät. In klarer, filigraner Sprache geschrieben. Sanft, zurückhaltend und doch hocherotisch. Stilistisch ein Anti-Roche. Statt Sex detailliert zu schildern, erzählt Maria um ihn herum: „Als wir vom Tisch aufstehen und in das andere Zimmer gehen, da sage ich einen Satz zu ihm, den ich, das weiß ich schon jetzt, nur einmal sagen werde: ‚Mach mit mir, was du willst’, flüstere ich ihm ins Ohr. Und das tut er dann auch.“

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