PROVINZ
Kühe kann man reiten, aber nicht besonders schnell
Leise summen die Elektrozäune. Die Augen der Kühe sind große, feuchte Kugeln, zum Weitspucken wie geschaffen. Die Jugendlichen treffen sich abends an der Bushaltestelle, auch im Winter. Die meisten von ihnen fahren betrunken Auto, bevor sie einen Führerschein haben. Jedes Jahr sterben einige von ihnen beim Versuch, zu entkommen. Man atmet Jauche und Vergangenheit.
Die Provinz – die deutsche ebenso wie die französische oder afrikanische – ist aus verschiedenen Gründen ein idealer Schauplatz für Geschichten: Die Anzahl der involvierten Personen bleibt aus demografischen Gründen gering, die Informationswege sind kurz und funktionieren tadellos: Betrügt in der Provinz jemand seine Frau, bemerkt das die Nachbarin, bevor er es selbst weiß.
Der Reizarmut wegen ist die Provinz ein Treibhaus für alle Formen von Wahnsinn. Das kann tödlich enden, und nicht immer ist, wie in Flauberts „Madame Bovary“, das Opfer die Wahnsinnige selbst. Auch deshalb spielen viele Kriminalromane in ländlichen Gegenden.
Die Konflikte, die deren Handlung antreiben, sind oft sehr alt. Die Vergangenheit vergeht langsamer hier, bleibt stehen wie das Regenwasser in den Schlaglöchern der Hauptstraße. Das Schweigen über diese Konflikte ist zäh wie die braunen Flecken auf der Wachstuchdecke und belastbar wie ein Kälberstrick. Mit „Dinge, die wir heute sagten“ baut Judith Zander einen ganzen Roman auf diesem Schweigen auf.
Und zuletzt: Das Dorf ist für diejenigen, die es nicht kennen, ein Sehnsuchtsort. Der Leser eines Provinzromans gewinnt das gute Gefühl, dass sich unter der Plakat-Idylle Grauenvolles verbirgt, kann aber, während er von Toten, Verrückten und Geschändeten liest, eben diese Idylle genießen. Denn während Kinder vergewaltigt, Väter an Schweine verfüttert und Großtanten auf dem Dachboden gefangen gehalten werden, ist es rundherum angenehm grün, die Kühe blicken seelenvoll und in der Ferne summen die Elektrozäune.