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PEINLICHE GESTÄNDNISSE, GEHEIME KATASTROPHEN

Tagebuch-Literatur im Hörbuch

"Ich würde jedem Kind empfehlen, ein Tagebuch zu führen", meint Jeff Kinney, der Autor von Gregs Tagebuch. Die meisten seiner Freunde könnten sich kaum mehr an ihre Kindheit erinnern. Das Tagebuch wie wir es kennen, als eine Sammlung mehr oder weniger geheimer, zutiefst subjektiver persönlicher Aufzeichnungen, ist eine relativ junge Form - und für Schriftsteller ungeheuer praktisch.

"Der Monat endet mit einer langen Schönwetterperiode. Bin bei guter Gesundheit, abgesehen von gelegentlichen heftigen Blähungen. Die Königin ist seit einigen Tagen in Hampton Court. Alle sagen, sie sei eine außerordentlich vornehme und hübsche Dame (…). Außerdem wurde kürzlich ein Friedensvertrag mit Algier geschlossen, auch dies eine gute Nachricht." Dies ist ein Auszug aus den Geheimen Tagebüchern des Engländers Samuel Pepys, geschrieben zwischen 1660 und 1669. Weil Herrn Pepys die eigenen Verdauungsprobleme und außerehelichen Eskapaden genauso wichtig sind wie die Weltpolitik, gilt dieses Dokument als das älteste moderne Tagebuch.
Im Bürgertum des frühen 18. Jahrhunderts sind Diarien bereits weit verbreitet. Zunehmend steht nicht die bloße Aufzeichnung politischer und familiärer Ereignisse im Vordergrund, sondern der Schreibende selbst und seine Sicht der Dinge. Pietisten erforschen im Geheimen ihre Seelen, Aufgeklärte legen Rechenschaft über ihre Entscheidungen ab. Das Tagebuch wird zur literarischen Form. Als einer der ersten Autoren verwendet Daniel Defoe fiktive Tagebuchaufzeichnungen. Sie sollen der Geschichte des Robinson Crusoe einen dokumentarischen Anstrich zu verleihen.

Das funktioniert bis heute. Sherman Alexies Absolut wahres Tagebuch eines Teilzeit-Indianers ist nicht nur eine bittersüße autobiografische coming-of-age-Geschichte, sondern vor allem ein Dokument der amerikanischen Gegenwart, das durch die Tagebuchform an Unmittelbarkeit gewinnt.

Aber das Tagebuch hat noch andere Vorteile für den Schriftsteller. Zum einen neigt der Leser dazu, den privaten Aufzeichnungen einer Figur zu glauben. Nicht umsonst sind Tagebücher oft durch Vorhängeschlösser oder Passwörter geschützt und werden vorzugsweise im Schreibtisch eingeschlossen oder unter dem Kopfkissen versteckt. Ihr Inhalt ist nicht für fremde Augen bestimmt. Und zu sich selbst sind die meisten Menschen ehrlich - oder nicht? Aus dieser vorgetäuschten Intimität beziehen fingierte Tagebücher prominenter Personen - hier sei Jan Böhmermanns Tagebuch von Lukas Podolski genannt - ihre Komik.

Zum anderen kennt das Tagebuch keine feste Form. Kurze und lange Einträge, Zeichnungen und Gedichte, Schimpfwörter und unzusammenhängende Schwärmereien - alles ist erlaubt. Viele Autoren erfinden eigene Konventionen, um so ihre Figuren, also die eigentlichen Tagebuchschreiber, zu charakterisieren. "Alles okeh - Kartoffenpüreh" reimt Bert Ljung in Berts Tagebuch - jedenfalls, wenn es ein guter Tag war.

"Das sind meine Memoiren und KEIN Tagebuch", stellt Greg Heffley, eine jüngere, amerikanische Version des schwedischen Pechvogels Bert gleich auf der ersten Seite seines Tagebuchs klar, denn: "Wenn mich irgendjemand mit diesem Buch in der Hand erwischt, weiß ich genau, was mir blüht." Tagebuch schreiben gilt wohl noch immer als Mädchenkram. Vielleicht erklärt gerade das den Erfolg der beiden Reihen.

Schreibt ruhig, Jungs. Und wenn wir eure Tagebücher zufällig entdecken, tun wir so, als hätten wir sie nicht gesehen. Wir werfen höchstens mal einen kleinen Blick - nicht? Na, dann nicht.